Die Große Synagoge Erfurt (1884 – 1938) virtuell rekonstruiert und als Tastmodell erleben

Eine Kooperation der Geschichtsmuseen der Stadt Erfurt mit der Fachhochschule Erfurt und den Universitäten Erfurt und Jena.

Eintauchen in die jüdische Geschichte Erfurts

Bild: Innenraum der virtuell rekonstruierten Großen Synagoge Bild: © Fachhochschule Erfurt

Die Große Synagoge

Foto: Postkarte von 1890 mit Innenansicht der Großen Synagoge Foto: © Jüdische Landesgemeinde Thüringen, Nachlass Hannelore Cars

500 Menschen fasste die prächtige Synagoge, welche die jüdische Gemeinde 1884 am Kartäuserring (heute Juri-Gagarin-Ring/Max-Cars-Platz) einweihen konnte. Ihr Bau war ein Meilenstein für die deutsch-jüdische Geschichte der Stadt: Die wachsende Gemeinde, deren Mitglieder nun endlich die politische Gleichstellung erreicht hatten, war ein Teil des gesellschaftlichen Aufbruchs am Ende des 19. Jahrhunderts geworden, der Erfurt zu einer modernen Großstadt aufsteigen ließ.

Foto: Die Große Synagoge Erfurt, undatiert Foto: © Stadtarchiv Erfurt

Erst seit wenigen Jahrzehnten durften Jüdinnen und Juden damals wieder in der Stadt leben, die ihnen 350 Jahre eine Ansiedlung verwehrt hatte. Gegen Antisemitismus und Ausgrenzung sandte die jüdische Gemeinde nun eine selbstbewusste Botschaft für Weltoffenheit und Begegnung mit der Inschrift über ihrem Synagogenportal: "Mein Haus soll ein Gebetshaus für alle Völker genannt werden".

Foto: Die Synagoge wurde in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 zerstört, die Aufnahme stammt vermutlich vom folgenden Tag. Foto: © Stadtarchiv Erfurt

Von jüdischen Familien geschaffene Bauten prägen bis heute das Stadtbild Erfurts, wie zum Beispiel das Kaufhaus Römischer Kaiser (heute Anger 1). Doch das wichtigste Gebäude im jüdischen Erfurt zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Große Synagoge, wurde 1938 von den Nationalsozialisten geplündert und in Brand gesteckt. Die Zerstörung dieses G´tteshauses* war der Beginn der Vernichtung des jüdischen Lebens in der Stadt. Wenige Überlebende der Shoah errichteten 1952 am selben Ort die Neue Synagoge, heute der Mittelpunkt einer lebendigen Gemeinde.

* Die Schreibweise G´tt respektiert die jüdische Praxis, den Namen G´ttes  aus Ehrfurcht nicht zu schreiben.

Eine außergewöhnliche Begegnung mit Geschichte und Gegenwart

Farbfoto. Vorderansicht der virtuell rekonstruierten Großen Synagoge in einem 3D-Webmodell
Bild: Vorderansicht der virtuell rekonstruierten Großen Synagoge Bild: © Stadtverwaltung Erfurt

54 Jahre war die Große Synagoge für viele Menschen ein wichtiger und lebendiger Ort des Glaubens und der Begegnung. Nach der Zerstörung blieben als Beleg für ihre bauliche Gestalt nur historische Gemälde, einige Fotos in Schwarz-Weiß, einzelne Zeitzeugenberichte und die Baupläne. Diese wenigen Hinweise bildeten – gemeinsam mit Befunden aus der Forschungsliteratur und einem intensiven Austausch mit der Jüdischen Landesgemeinde – die Grundlage dafür, das jüdische G´tteshaus in seinem historischen Zustand virtuell erlebbar zu machen. Neben einer akribischen Rekonstruktion der Architektur steht die multimediale Wissensvermittlung jüdischen Lebens im Zentrum.

Die virtuelle Rekonstruktion der Großen Synagoge schafft ein außergewöhnliches Erlebnis, denn Raumgefühl und Sinneseindrücke sind mit der realen Welt vergleichbar. Das Potential innovativer Technik und die Freude am Bewegen in einer virtuellen Welt stehen nicht im Widerspruch zur Vermittlung und Reflexion historischen Wissens. Im Gegenteil: Die virtuelle Rekonstruktion macht die Vergangenheit zu einem Teil unserer Gegenwart und schafft damit ein kritisches Geschichtsbewusstsein für den kulturellen Reichtum jüdischen Lebens, die Verluste durch den Nationalsozialismus und die wieder zunehmenden Gefahren von Rechtsextremismus und Antisemitismus heute.

Auf der Basis der digitalen Daten wurden im Kooperationsprojekt drei Formate erarbeitet: eine Virtual-Reality-Umgebung für eine VR-Brille, ein im Internet zugängliches Web-3D-Modell und ein im 3D-Druckverfahren hergestelltes Tastmodell im Maßstab 1:68, das als Denkmal Große Synagoge am historischen Standort aufgestellt wurde. Alle drei Formate machen auf unterschiedliche Weise an einem herausragenden Beispiel der Erfurter Stadtgeschichte deutlich, was Vielfalt, Demokratie und Menschenrechte für die Menschen und die Gesellschaft bedeuten.

Was erwartet Sie in der VR-Brille?

Rekonstruierte Innenansicht der Frauenempore in Virtual Reality.
Bild: Blick von der Frauenempore, dort befindet sich links die Wissensstation "Frauen in der Synagogengemeinde" Bild: © Fachhochschule Erfurt

Modernste Technik macht es nun möglich, die virtuell rekonstruierte Große Synagoge wieder besuchen zu können. Sie setzen sich eine VR-Brille auf und begeben sich in eine Virtual-Reality-Umgebung. Im Gehen, Stehen oder im Sitzen können Sie die gesamte Synagoge erkunden und dabei Ihrer Neugier und Ihren Interessen folgen. Die Bedienung des Handcontrollers, die Bewegung in der VR und die Interaktion mit Objekten lernen Sie in einer Einführungsstation. Darüber hinaus erhalten Sie Unterstützung durch geschultes Personal. Die virtuelle Rekonstruktion ist für Menschen jeden Alters geeignet und kann auch im Rollstuhl genutzt werden.

Über die Zeit, die Sie in der Brille verbringen, entscheiden Sie selbst. Die Nutzung aller Informationsangebote in der VR dauert ca. 45–60 Minuten.

virtuell rekonstruierter Toraschrein
Bild: An der ausgerollten Tora befindet sich die Wissensstation "Bima und Toraschrein" Bild: © Fachhochschule Erfurt

Sie können sich im Außenbereich, im Erdgeschoss mit Vor- und Hauptraum, vor dem Toraschrein, auf den Treppen, auf der Frauenempore und auf dem Dachboden des Gebäudes umschauen. An neun Wissensstationen stehen Ihnen mehrere einzeln abrufbare Informationsangebote zu Architektur und Leben in der Synagoge zur Verfügung. In Bildern und Geschichten begegnen Ihnen Menschen, die in dieser Synagoge gewirkt und das Gemeindeleben mitgestaltet haben. Sie erleben eine Toralesung und Musik, die in der Synagoge gesungen und auf der Orgel gespielt wurde. Sie benötigen kein Vorwissen, um die Geschichten in der Synagoge zu verstehen: Die Wissensstationen vermitteln Ihnen grundlegende Informationen über das Judentum, die älteste Weltreligion, die nur einen allumfassenden G´tt verehrt, und sie berichten darüber, wie die Jüdinnen und Juden in Erfurt ihre Religion ausübten.

Folgende Wissensstationen können Sie in der VR-Anwendung besuchen:

  • Einweihung der Synagoge
  • Virtuelle Rekonstruktion
  • Ein jüdisches G´tteshaus
  • Bima und Toraschrein
  • Gemeindeleben
  • Frauen in der Synagogengemeinde
  • Orgel
  • Zerstörung, Verfolgung, Vernichtung
  • Wiederbeginn und Neuaufbau nach 1945

Das Web-3D-Modell der Großen Synagoge mit den Wissensstationen

Das in Kooperation mit der Universität Jena / ThULB entstandene Web-3D-Modell der Großen Synagoge Erfurt bietet online einen Einblick in die virtuelle Rekonstruktion. Sie können sich im Architekturmodell der Synagoge bewegen und finden dort analog zur VR-Anwendung die Wissensstationen und Inhalte verlinkt.

Das Denkmal Große Synagoge

Am 31. August 2022 übergab Oberbürgermeister Andreas Bausewein das Denkmal Große Synagoge im Rahmen der Festveranstaltung "70 Jahre Neue Synagoge Erfurt" der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen vor zahlreichen Gästen aus Politik und Gesellschaft. Prof. Dr.-Ing. habil. Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde, bedankte sich für dieses "wunderbare Geschenk", das sich in " in die großen Anstrengungen unserer Landeshauptstadt bei der Pflege des jüdischen Erbes" einreihe. Projektleiterin PD Dr. Annegret Schüle schloss ihre Rede mit den Worten: "Das Tastmodell der Großen Synagoge hat ab heute einen dauerhaften Platz in der Erfurter Erinnerungslandschaft – als Symbol für die historische Präsenz jüdischen Lebens vor dem Nationalsozialismus mitten in Erfurt und als klares Zeichen gegen Antisemitismus und Rechtsextremismus, für Demokratie, Religionsfreiheit und Menschenrechte."

Veröffentlichungen

Pressestimmen

Freies Wort: Die Erinnerung lebt weiter

Pressestimme: 21.09.2021 16:10

Während des Novemberpogroms 1938 wurde auch die Große Synagoge in Erfurt zerstört. Ein deutschlandweit einmaliges Projekt erweckt dieses Bauwerk und damit einen Teil der jüdischen Kultur des Landes wieder zum Leben – virtuell, doch ganz nahbar.

Wo können Sie die Große Synagoge in Virtual Reality erleben?

An drei Orten in Erfurt kann man die VR-Anwendung kostenfrei nutzen:  

Erinnerungsort Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz

Sorbenweg 7, 99099 Erfurt

Der Erinnerungsort Topf & Söhne klärt darüber auf, wie Menschen im Nationalsozialismus ihre Mitmenschlichkeit aufgaben und ihre beruflichen Kompetenzen zur Unterstützung eines Massenverbrechens einsetzten. Umso wichtiger ist, dass dort heute Menschen eine Stimme erhalten, die von den Nationalsozialisten verfolgt wurden, und ihre Geschichten erzählt werden. Mit der VR-Anwendung verstärkt der Erinnerungsort seine Bildungsarbeit zur jüdischen Geschichte und Gegenwart und die Auseinandersetzung mit den Gefahren des Antisemitismus.

Nutzung mit vorheriger Anmeldung sowie im Rahmen von Bildungsangeboten für Gruppen

Anmeldung Di–Fr: 0361 655-1682, lernort.topfundsoehne@erfurt.de

Anmeldung: Sa–So: 0361 655-1681

 

Neue Synagoge Erfurt

Jüdische Landesgemeinde Thüringen
Max-Cars-Platz 1, 99084 Erfurt

Die Neue Synagoge wurde 14 Jahre nach der Zerstörung der Großen Synagoge am selben Ort errichtet. Mit dem Angebot der VR-Anwendung können Interessierte die Große Synagoge an ihrem historischen Ort virtuell erkunden.

Für die Nutzung einer VR-Brille wird eine rechtzeitige Anmeldung erbeten: 0361 5624964 oder info@jlgt.org

360Grad Thüringen Digital Entdecken

Thüringer Tourismus GmbH
Willy-Brandt-Platz 1, 99084 Erfurt

Der Showroom "360Grad Thüringen Digital Entdecken" der Thüringer Tourismus GmbH am Willy-Brandt-Platz ermöglicht den zahlreichen Gästen der Stadt Erfurt einen Einblick in die reiche jüdische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts und die Gegenwart jüdischen Lebens.

Eine Nutzung ist ohne Anmeldung möglich: Mo–Fr 9–17 Uhr, Sa/So 10–16 Uhr

Weitere Informationen: 0361 37420 oder service@thueringen-entdecken.de

Ein Kooperationsprojekt

Kooperationsprojekt Virtuelle Rekonstruktion der Großen Synagoge Erfurt 2021

Projektleitung

  • Landeshauptstadt Erfurt – PD Dr. Annegret Schüle Geschichtsmuseen, Erinnerungsort Topf & Söhne  

Projektpartner

  • Universität Erfurt Prof. Dr. Christiane Kuller, Neuere und Zeitgeschichte und Geschichtsdidaktik – Prof. Dr. Patrick Rössler, Empirische Kommunikationsforschung/Methoden
  • Fachhochschule Erfurt – Prof. Yvonne Brandenburger, Gebäudeentwurf und Bauplanung – Prof. Rolf Kruse, Digitale Medien und Gestaltung
  • Universität Jena / ThULB – Dr. Andreas Christoph, Digitales Kultur- und Sammlungsmanagement

Gefördert durch

  • Freistaat Thüringen – Staatskanzlei