Annegret Schüle: Begrüßung zur Eröffnung der Ausstellung "Wohin bringt Ihr uns? 'Euthanasie'-Verbrechen im Nationalsozialismus"
Annegret Schüle, Oberkuratorin des Erinnerungsortes Topf & Söhne
Herzlich willkommen in diesen schwierigen Zeiten im Erinnerungsort Topf & Söhne, liebe Gäste. Besonders begrüße ich unseren Referenten Andreas Hechler aus Berlin sowie Uwe Kintscher, Anja Schneider, Kerstin Albrecht, Sandra Pohlan, Lutz Kurzreiter von der Lebenshilfe Erfurt und Elisabeth Weber, Sebastian Hanke und Mieke Hagenah von der Lebenshilfe Jena. Aufgrund ihrer aktuellen Aufgaben im Corona-Krisenstab der Stadtverwaltung kann die Bürgermeisterin und Beigeordnete Anke Hofmann-Domke leider nicht anwesend sein und lässt sich herzlich entschuldigen.
Sie hörten den ersten Teil der Sonatine von Karlheinz Stockhausen von 1951, dargeboten von Gundula Mantu an der Violine und Samuel Bächli am Klavier. Herzlichen Dank. Der zweite Teil wird später folgen.
Mit diesem Stück bieten wir Ihnen nicht nur einen der bedeutendsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Wir machen auch deutlich, wie tief die existentiellen Gewalt- und Verlusterfahrungen, die Menschen im Nationalsozialismus erlitten, weiter wirkten. Als Karlheinz Stockhausen 12 Jahre alt war, wurde seine Mutter, die ihren Mann im zweiten Weltkrieg verloren hatte und wegen Depressionen in Behandlung war, in der "Euthanasie"-Tötungsanstalt Hadamar ermordet.
Warum ist diese Ausstellung "Wohin bringt ihr uns? 'Euthanasie'-Verbrechen im Nationalsozialismus" für Erfurt wichtig? Sie macht es uns als Erinnerungsort möglich, über unser Kernthema, den Terror in den Konzentrationslagern und den Völkermord an Juden und Sinti und Roma, hinaus eine weitere wichtige Dimension der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung aufzuzeigen und zu vermitteln: Die Gewaltanwendung und den Massenmord an Menschen mit Beeinträchtigung, Behinderung oder auch nur mit unkonventioneller Lebensweise.
Zur Dimension dieser Verbrechen:
400.000 Menschen wurden in Deutschland ab 1933 auf der Basis des "Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" zwangssterilisiert, vor allem Menschen aus sogenannten sozialen Randgruppen. Ungefähr 5.000 von ihnen starben an den Eingriffen.
300.000 Menschen wurden ab 1939 in Deutschland und den besetzten Gebieten im Rahmen sogenannter "Euthanasie"-Programme ermordet, weil sie körperlich, geistig oder psychisch beeinträchtigt waren.
In den weiteren Reden und Gesprächen hier auf der Bühne werden Ihnen nun verschiedene Aspekte vermittelt, die uns bei der Erarbeitung und der pädagogischen Betreuung der Ausstellung wichtig waren und sind.
Eine historische Ausstellung fußt auf der Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand und der eigenen Recherche in den Archiven und dieses Fundament verdanken wir Lisa Caspari, die Sie gleich in die Ausstellung einführen wird. Sie hat als wissenschaftliche Volontärin die Ausstellung maßgeblich erarbeitet und dabei ihre Expertise als Historikerin und langjährige freiberufliche Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar sowie ihre Vernetzung zu den Gedenkstätten an den ehemaligen Tötungsanstalten eingebracht.
Ausstellungen über die nationalsozialistischen Gesellschaftsverbrechen, und dazu gehören auch die hier aufgearbeiteten Medizinverbrechen, sind auf Täterakten angewiesen. Die Erfahrungen der Opfer sind nicht überliefert oder nur entstellt durch den Blick der Täter. Umso wichtiger ist ein Perspektivenwechsel, in dem die Stimmen der Betroffenen und ihrer Familien sicht- und hörbar werden und deshalb freuen wir uns sehr, dass Andreas Hechler aus Berlin über die Ermordung seiner Urgroßmutter in der Tötungsanstalt Hadamar sprechen wird und was dies für seine Familie bedeutet.
Verstehen Sie dies auch als Einladung, sich selbst in das Gespräch einzubringen. Seit wir an der Ausstellung arbeiten und darüber mit Freunden oder Kooperationspartnern reden, habe ich ganz unerwartet von Schicksalen aus zahlreichen Familien erfahren. Auch meine eigene Familie gehört dazu. Meine Tante Hedwig wurde 1940 auf der Schwäbischen Alb mit Down-Syndrom geboren. Nur, weil sie immer in der Obhut der Familie blieb, konnte sie den Nationalsozialismus überleben und starb erst vor wenigen Jahren im Alter von 74 Jahren.
Es ist eine gute Praxis im Erinnerungsort Topf & Söhne, historische Themen mit ihrer Bedeutung für die Gesellschaft heute zu verbinden. Die Idee, 2020 und damit 80 Jahre nach dem Beginn der sogenannten "Aktion T4" die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung von Menschen mit körperlicher, geistiger oder psychischer Beeinträchtigung zu einem thematischen Schwerpunkt zu machen, entstand in der Kooperation mit der Lebenshilfe Erfurt und dem Landesverband der Lebenshilfe. Gemeinsam wollen wir dabei gegen immer lautere Stimmen von rechts angehen, die wieder von einer Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben sprechen. Mit der Anfang diesen Jahres ins Leben gerufene Initiative "Barrierefrei erinnern. Das Zentrum für Thüringen" wird die Lebenshilfe gemeinsam mit den Gedenkstätten Buchenwald, Mittelbau-Dora und uns inklusive Projekte der Geschichtsvermittlung zu den nationalsozialistischen Verbrechen und zu den aktuellen Gefahren der Ausgrenzung von Menschen mit Behinderung auf den Weg bringen. Führungen in Leichter Sprache durch die Ausstellung "Wohin bringt ihr uns?", die teilweise auch von Menschen mit Behinderung mitgestaltet werden, sind hier ein wichtiger Schritt. Nach ihrer Präsentation bis Sommer 2021 im Erinnerungsort wird der Lebenshilfe-Landesverband die Ausstellung an weiteren Orten in Thüringen zeigen. Warum die Teilhabe an der historischen Auseinandersetzung, warum "Geschichte für alle" wichtig ist, erfahren Sie von Kerstin Albrecht, Sandra Pohlan und Lutz Kurzreiter vom Selbstvertreter-Rat des Landesverbandes der Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung im Gespräch mit Anja Schneider.
Mit der Pandemie bekommen die Fragen, die wir in der Ausstellung verhandeln, eine neue Brisanz. Zu den großen Herausforderungen, die sich unserer Gesellschaft in diesem massiven Stress-Zustand stellen, gehört die Frage, wie die Grundsätze der Menschlichkeit, der gleichen Rechte für alle und der Solidarität bewahrt werden. Die Ausstellung leistet dazu einen Beitrag. Denn sie zeigt sehr eindrücklich, wohin es führen kann, wenn eine Gesellschaft den Schutz der Schwachen und Hilfsbedürftigen verweigert und eine Unterscheidung zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben zur gesellschaftlichen und staatlichen Handlungsmaxime wird. Die historischen Medizinverbrechen, die Ihnen diese Ausstellung vermittelt, zeigen uns, welch hoher Wert eine Gesundheitsfürsorge und eine angemessene Krankenbehandlung für alle Menschen bedeutet.
Unser Förderpartner bei Ausstellung und Begleitprogramm sind die Thüringer Staatskanzlei und die Landeszentrale für politische Bildung Thüringen. Ihnen herzlichen Dank.
Ich freue mich, dass wir erstmals mit der Gestalterin Tina Zürner von "ungestalt. Kollektiv für Kommunikationsdesign" aus Leipzig zusammenarbeiten konnten. Ihre gestalterische Handschrift, mit der sie innovativ und anschaulich eine dem schwierigen Thema angemessene Form gefunden hat, werden Sie gleich selbst beurteilen können.
Selbstverständlich möchte ich wie immer einen großen Dank an das großartige Team des Erinnerungsortes aussprechen, insbesondere Rebekka Schubert, die in gewohnt anspruchsvoller Weise gemeinsam mit Lisa Caspari das Bildungs- und Vermittlungsangebot zur Ausstellung konzipierte, an unsere Trainee Ida Forbriger, unsere FSJ-Freiwilligen Roman Lehe und Elisa Möser sowie an unsere studentische Praktikantin Carmen Sigler, die wertvolle Unterstützung bei der Recherche und Kommunikation mit den Archiven leistete.
Auch diese Ausstellung wird im Teil-Lockdown ab kommenden Montag für zunächst einen Monat nicht oder nur eingeschränkt besucht werden können. Sicher ist schon, dass öffentliche Veranstaltungen und Führungen im November entfallen müssen. Doch wir haben einen langen Atem und eine tiefe Überzeugung, mit unseren Angeboten einen Beitrag zur Bewahrung von Demokratie, Meinungsfreiheit, Solidarität und Rechtsstaat zu leisten. Wir arbeiten weiter daran, unsere Angebote für viele Menschen zugänglich zu halten und sie miteinander ins Gespräch zu bringen. Dazu gehören auch die drei Text-Postkarten, die Sie mitnehmen und gerne – mit Ihrem Statement auf der Rückseite – an uns zurückgeben oder schicken.