Reinhard Schramm: Ansprache zur Eröffnung der Ausstellung "Un-er-setz-bar" in Gotha

27.01.2014 11:00

"Begegnungen mit Überlebenden des nationalsozialistischen Völkermords – sei es persönlich oder mittels Videos und Bildern – lassen sich nicht durch andere Formen der Wissensvermittlung ersetzen..."

Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen

Foto: Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde, spricht zur Eröffnung der Ausstellung in Gotha. Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Freunde,

ich bedanke mich im Namen der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen für die  Einladung zur heutigen Ausstellungseröffnung.

Mein Dank gilt insbesondere Frau Dr. Schüle und ihren Mitarbeiterinnen im Erinnerungsort Topf & Söhne, aber auch allen anderen Beteiligten an der Ausstellung unter dem Titel "Un-er-setz-bar – Begegnung mit Überlebenden".

Begegnungen mit Überlebenden des nationalsozialistischen Völkermords – sei es persönlich oder mittels Videos und  Bildern – lassen sich nicht durch andere Formen der Wissensvermittlung ersetzen, weil persönliche Schicksale berührender und damit meist überzeugender sind als Statistiken über die Millionen Opfer des Nationalsozialismus.

Und das betrifft nicht nur die nationalsozialistischen Verbrechen. Es gilt genauso für die Verbrechen gegen die Menschlichkeit in der jüngsten Vergangenheit wie in Kambodscha, Ruanda, Sudan, im ehemaligen Jugoslawien und anderswo.

Jeder neuen Generation muss ein Zugang zur Vergangenheit erschlossen werden. Auch der Kampf gegen die Menschenrechtsverletzungen von heute muss engagiert geführt werden.

Wie notwendig das gegenwärtig in unserer Europäischen Union ist, zeigen die Morde an Muslimen in Deutschland, die Morde an Juden in Frankreich und die Pogromopfer unter den Roma in Süd- und Osteuropa.
Der Ruf in Tschechien "Tschechien den Tschechen, Zigeuner ins Gas", der erstarkende Neofaschismus in Ungarn und die Volksverhetzung der NPD gegen Sinti und Roma in Deutschland sollten unsere Bevölkerung wachrütteln.

"Unersetzbar" als Überschrift betrifft nicht nur die Wanderausstellung des Erinnerungsortes Topf & Söhne.
"Unersetzbar" – das gilt in vollem Umfange auch für den Erinnerungsort Topf & Söhne in Erfurt selbst.
Die Einzigartigkeit des Erinnerungsortes Topf & Söhne besteht darin, dass er wie kein anderer Ort in Europa die technische Seite der nationalsozialistischen Menschenvernichtung verdeutlicht.

Warum ist das wichtig?
Schuld an Verfolgung und Mord war nicht Hitler allein. Schuld waren auch nicht nur die Polizei, Gestapo, Wehrmacht und SS.
Nein, bis auf Ausnahmen machten sich im Nationalsozialismus alle Teile der Gesellschaft schuldig.
Zu den Schuldigen gehörten auch Lehrer, Ärzte, Gefängnisbeamte, Eisenbahner, Finanzbeamte, Techniker und Angestellte von Industriebetrieben, selbst Hausfrauen und Mütter.

Was haben die Lehrer in den Schulen meiner Heimatstadt Weißenfels gedacht, als sie nach der "Kristallnacht" alle jüdischen Kinder aus der Schule warfen?

Was haben die Ärzte meiner Stadt gedacht, als sie dem sechsjährigen Bernd Wolfson die Behandlung verweigerten, so dass das jüdische Kind an einer Mittelohrvereiterung sterben musste?

Was hat der Gefängnisbeamte gedacht, der einen jungen Zigeuner – wie man damals sagte – schlug und hinaus warf, nur weil er seine inhaftierte Mutter nicht auf Deutsch begrüßte?

Was haben die Frauen und Mütter unseres Wohnhauses gedacht, als sie meiner Mutter bei Bombenalarmen den Luftschutzkeller verweigerten, weil sie nicht neben einer Jüdin mit deren Baby sitzen wollten?

Was haben die Eisenbahner gedacht, als sie Tag und Nacht die Dresdner  Bahnanlagen reparierten, um die letzten Juden aus den sogenannten "Mischehen"  auch meiner Stadt noch im Februar 1945 am brennenden Dresden vorbei in das KZ Theresienstadt zu bringen?

Was hat der Finanzbeamte gedacht, als er in kurzen Abständen die Akten meiner ermordeten Verwandten schloss und auf die Akte meiner Großmutter schrieb: "Jüdin Emma-Sarah Murr. Es ist zu löschen Alles"?

Und was dachten die Ingenieure von Topf & Söhne aus Erfurt, als sie trotz Kenntnis des Massenmordes in Auschwitz mit Fleiß, Ordnung und Pünktlichkeit immer leistungsstärkere Verbrennungsöfen gebaut und in Auschwitz aufgebaut haben?

Als Heranwachsender kam ich zu der Schlussfolgerung: 
Ohne das Engagement, den Fleiß, die Ordnung und die Pünktlichkeit dieser deutschen Fachleute wären ihre Gaskammern nicht so dicht und die Verbrennung der Opfer nicht so schnell gewesen.
Vielleicht wäre mir dann wenigstens meine Großmutter geblieben.

Heute sage ich:
Unsere deutschen Tugenden haben nur dann Sinn, wenn wir mit ihnen vor allem die Menschenrechte und unsere Demokratie verteidigen.

Das Team des Erinnerungsortes Topf & Söhne tut das. Sie tun es auch mit dieser Wanderausstellung.
Ich danke dafür.