Thüringer Allgemeine: "Sie haben diese Menschen schlimmer behandelt als Tiere"

10.05.2012 10:00

Auf dem Erfurter Hauptbahnhof lagen gestern die Namen von 101 Juden aus, die vor 70 Jahren deportiert wurden − geblieben sind Trauer und Erinnerungen

von Hanno Müller

Bahnhofsdurchsage zu früher Stunde. Kurz nach 6 Uhr bat die Ansagerin gestern über die Lautsprecher um Aufmerksamkeit für eine Aktion in der Halle des Erfurter Hauptbahnhofes. Erfurter Bürger legten dort die Namen von 101 jüdischen Frauen, Kindern und Männern aus, die hier auf den Tag genau vor 70 Jahren zusammengetrieben und über Weimar ins ostpolnische Belzyce deportiert wurden. Keiner dieser Erfurter überlebte den Holocaust.

Unter den Teilnehmern der vom Erinnerungsort Topf & Söhne mit Unterstützung der Bahn initiierten Gedenkaktion war gestern morgen auch die 88-jährige Inge Breithaupt. Auf zwei Stöcke gestützt, hatte sie sich früh zu Fuß zum Bahnhof aufgemacht. "Ich bin voll Trauer über das, was damals passierte. Ich kann die Bilder dieser Tage nicht vergessen. Sie haben diese Menschen schlimmer behandelt als Tiere", sagt sie. Inge Breithaupt kennt einen der Namen. Leopold Levi, ein damals 55-jähriger Kaufmann aus Suhl, der zum Zeitpunkt der Deportation in Erfurt lebte. Ihr Bruder Wilhelm sei mit einem Levi-Sohn auf das Gymnasium in der Schillerstraße gegangen, erzählt die betagte Frau. Mit Leopold Levi wurde dessen Schwester Helene Charlotte verschleppt. Für beide wurde es ein Transport ohne Wiederkehr. Nur ihre Geschwister Ernst und Erna konnten vorher auswandern und so überleben.

Anfang Mai 1942 waren aus ganz Thüringen über 500 Juden nach Weimar beordert und dort bis zum Abtransport nach Ostpolen in einer großen Viehhalle hinter dem Bahnhof (die heutige Viehauktionshalle) zusammengepfercht worden. Fast alle wurden später in Belzyce, im KZ Majdanek oder in anderen Vernichtungslagern ermordet.

Unter ihnen waren auch die damals 49-jährige Klara Simon und ihre 21-jährige Tochter Herta. Bevor sie von den Nationalsozialisten gezwungen wurden, nach Erfurt zu übersiedeln, lebten sie in Blankenhain. Von dort kam gestern Sieglinde Hörig vom Blankenhainer Arbeitskreis für Stadtgeschichte zum Gedenken nach Erfurt. Als die 70-Jährige die mit Blumen geschmückten Namen der beiden Frauen auf dem Boden der Bahnhofshalle entdeckte, kämpfte sie mit den Tränen. Auch wenn sie damals gerade geboren wurde, gehe ihr das Schicksal der in Blankenhain Unvergessenen nahe, gestand sie.

Über Nacht ohne Rechte

Über Nacht ohne Rechte "Über Nacht waren Menschen, die einträchtig mit ihren Nachbarn zusammenlebten, ohne Rechte und verschwanden spurlos. Wie konnte so etwas nur geschehen?", fragte die Blankenhainerin leise.

Trotz Berufsverkehr hielten viele Reisende für einen Moment inne, um die von den Initiatoren verteilten Informationen zu lesen. Dreimal − um 6 , um 7 und um 7:40 Uhr − wiesen zudem die Erfurter Bahnhofssprecher auf die Deportationen hin, mit denen die "Endlösung" an den Thüringer Juden begann. Pünktlich um 7:40 Uhr war am 9. Mai 1942 der Zug mit den 101 Erfurtern zum Sammelplatz nach Weimar gestartet.

Seit einigen Jahren erinnert daran auch eine Gedenktafel am Aufgang zwischen den Bahnsteigen 3 und 8. Dort wurden gestern um 7:40 Uhr Kränze und Blumen niedergelegt. Dazu sang Deutschlands erste jüdische Kantorin Avidall Gerstetter ein Klagelied.

Mit zahlreichen Veranstaltungen wird auch heute wieder vielerorts im Freistaat der deportierten und ermordeten Thüringer Juden gedacht.

Foto: Ein Junge mit Kippa hält auf dem Erfurter Hauptbahnhof vor den mit Blumen geschmückten Namen der Deportierten inne.