Thüringer Allgemeine: Hier entstehen Haltungen

22.01.2021 12:00

Vor zehn Jahren wurde in Erfurt der Erinnerungsort "Topf & Söhne" eröffnet.

von Elena Rauch

Erfurt. Vom " Grab in den Lüften" schrieb Paul Celan in seiner "Todesfuge", das Unbeschreibbare des Holocaust in Worte fassend. In der Sprache deutscher Dienstbeflissenheit klingt es so: "Vorläufig habe ich für alle 3 Gleitbahnen eine Neigung von 35 Grad gegen die Waagerechte vorgesehen, weil erfahrungsgemäß bei diesem Rutschwinkel auch schwieriges Brennmaterial selber rutscht." Ingenieur Fritz Sander, angestellt bei "Topf & Söhne", teilte seiner Geschäftsleitung die Ergebnisse seiner Optimierungsversuche mit.

Der Erfurter Traditionsbetrieb entwarf und lieferte ab 1942 die Verbrennungsöfen und Belüftungsanlagen für die Gaskammern des Vernichtungslagers Auschwitz. Verlässlich und geschäftstüchtig. Eine Mittäterschaft aus der Mitte einer deutschen Stadt. Der Erinnerungsort Topf & Söhne besteht am 27. Januar zehn Jahre. Und bis heute ist es der einzige Ort in Europa, der auf einem historischen Firmengelände die Mittäterschaft der Industrie am Holocaust belegt und vermittelt. So sagt es Annegret Schüle, die den Gedenkort seit zehn Jahren leitet. Befasst ist sie mit diesem Ort weitaus länger, noch in einer Zeit, als sich die Stadt schwer mit ihm tat. Aus Angst, die Aufarbeitung dieser Geschichte könnte sich als dunkles Mal auf die Wahrnehmung der Stadt legen.

Weil "Topf & Söhne" auch exemplarisch dafür steht, wie der Holocaust durch die Mitwisser- und Mittäterschaft aus der Mitte der Gesellschaft möglich wurde. Sekretärinnen, die Lieferlisten abtippten, Techniker, die auf Dienstreise nach Auschwitz fuhren, Ingenieure, die an der technischen Effizienz der Öfen arbeiteten… Beweise, die das bezeugen, Schriftstücke wie das des Ingenieurs Fritz Sander, verstaubten jahrzehntelang in den Archiven des Nachfolgebetriebs "Mälzerei und Speicherbau". An die Irritation darüber kann sich Annegret Schüle bis heute erinnern.

Es gibt keine Opfer ohne Täter. Das wird hier deutlicher als anderswo. In Gedenkstätten wie Auschwitz oder Buchenwald, bemerkt sie, fällt die Distanzierung von diesen Abgründen vielleicht leichter. Wie könnte es anders sein. An Orten wie dem ehemaligen Firmengelände von "Topf & Söhne" lauert immer auch die Selbstbefragung. Wie weit eigene Courage gegangen wäre, oder eigener Opportunismus. Und in der Konsequenz vor allem: Wie es heute damit bestellt ist. Was nährt rassistische Ressentiments und Antisemitismus, wo beginnt Zivilcourage, wie gehen andere Gesellschaften mit Tabubrüchen um?

Sie fragten hier zum Beispiel auch nach Ruanda, und wie die Menschen mit den Folgen des Genozids weiterleben, nach Schuld, Sühne und Vergebung. In den vergangenen zehn Jahren ist der Erinnerungsort "Topf & Söhne" auch zu einem Ort des intellektuellen Diskurses über die Gegenwart geworden.

Aber tief in die Seele, sagt Annegret Schüle, gehen die Begegnungen mit Überlebenden des Holocaust. Dass es so viele werden würden, hatte sie zu Beginn dieser Arbeit nicht geahnt. "Un-er-setz-bar. Begegnungen mit Überlebenden" ist ein laufendes Projekt, das Filminterviews mit ihnen für die Zukunft aufzeichnet. Es sind, sagt sie, für die Menschen keine einfachen Besuche an diesem Ort. Hier wurde es von deutschen Technikern geschaufelt, das "Grab in den Lüften". Trotzdem, sie erlebte nur ein einziges Mal eine Absage, weil es über die Grenzen des Aushaltbaren ging. So stelle sie sich Erinnerungsarbeit vor, hatte ihr die Überlebende Éva Pusztai bei einer ihrer ersten Begegnungen gesagt.

Inzwischen ist sie, die 49 Angehörige in Auschwitz verlor, regelmäßiger Gast im Gedenkort. Er habe im Heimatverlust und der Entrechtung, wie es Éva Pusztai erzählte, viel vom eigenen Leben erkannt. Das hatte ihr ein junger syrischer Praktikant einmal gesagt. Vielleicht, dass die individuelle Erfahrung einen Zugang zum jüdischen Schicksal schafft, sagt Annegret Schüle mit Blick auf muslimische Migranten und ihr Verhältnis zum Judentum.

Wie sieht die Zukunft der Erinnerung aus? Was ist zu tun wenn es stimmt, dass jede Generation ihre eigene Erinnerungskultur schaffen muss? Die Frage wird hier gewissermaßen im Alltag durchbuchstabiert.

Etwa jeder vierte Besucher ist ein Jugendlicher. Die Begegnung mit Zeitzeugen, die hier immer wieder ermöglicht wurden, der Diskurs über Mitläufertum, Ignoranz und Mut, die Reflexion: In diesem Prozess entstehen Haltungen. Das ist vielleicht der wichtigste Grund, warum Orte wie dieser gebraucht werden.