Original-Tagebuch von Marion Feiner kehrt nach Erfurt zurück

01.06.2023 17:19

Am 10. Dezember 1935 schrieb Marion Feiner zum ersten Mal in ihr Tagebuch, ein Geschenk zu ihrem 14. Geburtstag. Damals lebte sie mit ihrer Familie in der Klausener Straße 11, fünf Minuten Fußweg von der damaligen Fabrik J. A. Topf & Söhne entfernt. Marion Feiner nahm ihr Tagebuch mit, als sie mit 16 Jahren Anfang 1938 nach Palästina auswanderte. Ihre Eltern wurden in der Shoah ermordet, sie hatten nicht die Möglichkeit auszuwandern.

Wertvolles Exponat in der Ausstellung im Erinnerungsort Topf & Söhne

zwei Frauen stehen an einem Buch
Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

Seit 4. Mai erzählt der Erinnerungsort Topf & Söhne in einer Ausstellung rund um das Tagebuch die berührende Geschichte der Familie Feiner. Ihr Schicksal steht exemplarisch für die jüdische Bevölkerung Erfurts im Nationalsozialismus.

Das Tagebuch, das Marion, die sich nach ihrer Auswanderung Miriam nannte, bis 1939 führte, ist in der Ausstellung digital an Tablets zugänglich. Zudem wird eine Nachbildung während der gesamten Laufzeit der Ausstellung bis Mai 2024 gezeigt. Für vier Wochen verleiht nun die Internationale Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Israel das wertvolle und sensible Original-Tagebuch nach Erfurt. Am 1. Juni brachte es eine Mitarbeiterin von Yad Vashem in die Sonderausstellung, dort ist das einzigartige Exponat bis 2. Juli zu sehen.

Der Enkel Yoni Saly sagte bei der Ausstellungseröffnung über das Tagebuch seiner 2012 verstorbenen Großmutter Miriam Ziv: „Ein erstaunlicher Fakt ist, dass – obwohl die Familie ab 1933 enorme Umbrüche erlebte, die Entlassung des Vaters, der wirtschaftliche Absturz, der Verlust gesellschaftlicher Stellung, die Schmähung und Demütigung von Seiten der Gesellschaft und des Establishments – all dies in Echtzeit im Tagebuch kaum zur Sprache kommt. Das junge Mädchen Marion bleibt positiv und stark, voller Lebenslust und dem Verlangen, das Beste aus dem Leben auf jedem Wege zu machen.“

Erst im Rückblick – das macht die Ausstellung anhand von Berichten der Tagebuchschreiberin Jahre und Jahrzehnte später deutlich – reflektiert Miriam ihre Verletzung, ihre Angst, ihre Wut und ihre Trauer durch die ihr angetane antisemitische Gewalt. Die Ausstellung arbeitet multiperspektivisch mit dieser Quellenvielfalt und ermöglicht damit Erkenntnisse nicht nur durch das, worüber Marion im Tagebuch unmittelbar berichtete, sondern auch durch das, was sie nur andeutete oder nicht beschrieb. Das Tagebuch wird so zu einem Fenster in die Vergangenheit, durch das man teilhaben kann, wie es einem jungen Mädchen gelang, die Nationalsozialisten nicht ihre Freude am Leben, an der Freundschaft, am Sport, an Natur und Kultur zerstören zu lassen.

„Je mehr ich über dieses starke Mädchen und die kraftvolle Frau, die sie später war, erfahre, desto stärker wird sichtbar, wogegen sie sich behauptete. Die zerstörerische Gewalt des Antisemitismus im Leben eines Menschen wird greifbar. Das ist das große didaktische Potential dieser Ausstellung“, bilanziert die Ausstellungskuratorin PD Dr. Annegret Schüle. „Ich bin sehr froh, dass wir nun auch das Original des Tagebuchs in Erfurt zeigen können und damit diese wichtige Ausstellung für die Erfurter Stadtgeschichte noch mehr ihre verdiente Aufmerksamkeit bekommt“, wirbt Kulturdezernent Dr. Tobias J. Knoblich für die Präsentation.

Zur Ausstellung „Miriams Tagebuch. Die Geschichte der Erfurter Familie Feiner“ werden Führungen und Seminare für Schulklassen und Erwachsenengruppen angeboten. Öffentliche Führungen finden jeweils am zweiten Sonntag im Monat um 15 Uhr statt, die nächste Führung am 11. Juni.