2022: Schreiben gegen das Vergessen

Partizipatives Projekt zur Erinnerung an die Deportation von Jüdinnen und Juden aus Thüringen vor 80 Jahren

Foto: Im Gedenken an die erste Deportation aus Erfurt am 9. Mai 1942 wurden die Namen von 474 in der Shoah ermordeten Erfurter Jüdinnen und Juden auf den Willy-Brandt-Platz vor dem Erfurter Hauptbahnhof geschrieben. Foto: © Stadtverwaltung Erfurt/Dirk Urban

Schreiben gegen das Vergessen

Ein Kooperationsprojekt des Erinnerungsortes Topf & Söhne, der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, der Landeszentrale für politische Bildung und der Künstlerin Margarete Rabow lädt dazu ein, 80 Jahre nach dem Beginn der Deportationen an die Menschen in Thüringen zu erinnern, die durch die antisemitische Ausgrenzung und Gewalt im Nationalsozialismus um ihr Leben gebracht wurden.

Die Künstlerin Margarete Rabow hat eine Gedenkaktion entwickelt, an der sich viele Menschen beteiligen können. Die Namen der Todesopfer der Shoah einer Stadt, einer Region oder eines ganzen Landes werden im öffentlichen Raum mit weißer Schulkreide auf den Boden geschrieben, die Aktion wird live gestreamt und filmisch dokumentiert.

Jeder Name ein Mensch, eine Geschichte, eine zerstörte Biografie, ein vernichtetes Leben. Schreiben Sie mit uns die Namen der Todesopfer der Shoah aus Thüringen in vier Schreibaktionen in Erfurt, Meiningen, Gera und Weimar.

Flyer und Plakat

Grußwort von Minister Prof. Dr. Hoff

Porträtfoto eines Mannes mit Bart
Foto: © Foto: Thüringer Staatskanzlei (TSK) / Jakob

Write their Names!

Wie werden wir der Opfer des Holocaust gedenken, wenn immer weniger Zeitzeugen von den Verbrechen des Nationalsozialismus berichten können? Wie halten wir die Erinnerung an die vielen verfolgten und ermordeten Menschen lebendig?

In Wien und mehreren deutschen Städten haben Freiwillige bereits zehntausende Namen ermordeter Jüdinnen und Juden mit Kreide auf Asphalt geschrieben und so öffentlich sichtbar gemacht. Das "Schreiben gegen das Vergessen" ist dabei zugleich auch ein Schreiben gegen die eigene Sprachlosigkeit angesichts der Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus. Die schiere Menge der Namen auf Straßen und Plätzen macht das ungeheure Ausmaß der Vernichtung sichtbar.

Ich lade deshalb alle Bürger/-innen herzlich ein, mitzuschreiben – bis alle Namen aufgeschrieben sind.

Prof. Dr. Benjamin-Immanuel Hoff
Chef der Staatskanzlei Thüringen sowie Beauftragter für jüdisches Leben in Thüringen und die Bekämpfung des Antisemitismus

Schreibaktionen

Erfurt, 9. Mai, 11–13 Uhr auf dem Willy-Brandt-Platz

An diesem Tag wurden Menschen aus Erfurt und anderen Orten in Thüringen nach Weimar und von dort am nächsten Tag in das Ghetto Bełżyce deportiert. 80 Jahre danach wurden die Namen der Menschen aus Erfurt geschrieben, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens und ihrer jüdischen Herkunft im Nationalsozialismus ermordet wurden.

Die Schreibaktion wurde von der Künstlerin Margarete Rabow mit dem Erinnerungsort Topf & Söhne, dem Rabbiner der jüdischen Landesgemeinde Alexander Nachama und weiteren Partnern gestaltet.

Meiningen, 9. September, 11–13 Uhr auf dem Marktplatz

Es werden die Namen der Menschen aus Meiningen geschrieben, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens und ihrer jüdischen Herkunft im Nationalsozialismus ermordet wurden.

Die Schreibaktion wird von der Künstlerin Margarete Rabow mit der Stadt Meiningen, der B. M. Strupp-Stiftung und dem Eine-Welt Verein Meiningen e. V. gestaltet.

Gera, 11. September, 12–14 Uhr auf dem Johannisplatz

Es werden die Namen der Menschen aus Gera geschrieben, die aufgrund ihres Glaubens und ihrer jüdischen Herkunft im Nationalsozialismus ermordet wurden.

Die Schreibaktion wird von der Künstlerin Margarete Rabow mit der Gedenkstätte Amthordurchgang e. V., dem Jugendhaus Shalom und weiteren Partnern gestaltet.

Weimar, 19. September, 10–16 Uhr auf dem Stéphane-Hessel-Platz

An diesem Tag wurden Menschen aus Weimar und anderen Orten in Thüringen in das KZ Theresienstadt deportiert. 80 Jahre später werden die Namen aller Menschen aus Thüringen geschrieben, die aufgrund ihres jüdischen Glaubens und ihrer jüdischen Herkunft im Nationalsozialismus ermordet wurden.

Die Schreibaktion wird von der Künstlerin Margarete Rabow mit der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, dem Erinnerungsort Topf & Söhne, der Stadt Weimar und weiteren Partnern gestaltet. Von allen Namen werden mit einer analogen 16 mm Filmkamera Einzelaufnahmen gemacht. Es entsteht ein Film mit 24 Bildern / Namen pro Sekunde.

Impressionen von den Schreibaktionen in Erfurt und Weimar

Bericht von der Schreibaktion in Erfurt

Foto: Zu Beginn der Gedenkveranstaltung trug Landesrabbiner Alexander Nachama, das Gedenkgebet "El male rachamim" und die Übersetzung vor. Foto: © Stadtverwaltung Erfurt/Erinnerungsort Topf & Söhne

Am 9. Mai 1942 wurden 513 Juden und Jüdinnen aus 42 Thüringer Städten in das Ghetto Bełżyce deportiert. Von ihnen überlebte allein Hannelore Wolff. Ihr haben wir es zu verdanken, dass wir überhaupt einen Zeugenbericht dieser ersten großen Deportation haben, die den Beginn der Shoah in Thüringen markiert.

80 Jahre später erinnert ein großes Kooperationsprojekt des Erinnerungsortes Topf & Söhne, der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora, der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek, der Landeszentrale für politische Bildung und der Künstlerin Margarete Rabow an die Opfer der Shoah in Thüringen. Seinen Auftakt fand dieses Projekt mit der Aktion "Schreiben gegen das Vergessen" am 9. Mai 2022 auf dem Willy Brandt Platz in Erfurt.

Eine dringliche Frage ist, wie wir der Opfer der Shoah gedenken werden, wenn immer weniger Zeitzeuginnen und Zeitzeugen von den Verbrechen der Nationalsozialisten berichten können. "Das Schreiben gegen das Vergessen", eine von der Künstlerin Margarete Rabow entwickelte Gedenkaktion ist eine neue und partizipative Form des Gedenkens, die darauf eine Antwort gibt. Die Namen der Todesopfer der Shoah einer Stadt, einer Region oder eines ganzen Landes werden im öffentlichen Raum mit weißer Schulkreide auf den Boden geschrieben, die Aktion wird live gestreamt und filmisch dokumentiert. Alle Interessierten können sich an dieser Aktion beteiligen.

Schreibaktion in Erfurt

In Erfurt schrieben an 9. Mai 2022 zahlreiche Personen die Namen der 474 Menschen aus Erfurt, die zwischen 1933 und 1945 aus antisemitischen Motiven von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Jeder einzelne dieser Namen verweist dabei auf den Menschen und die Geschichte dahinter. Jeder Name steht für einen Menschen der Erfurter Stadtgemeinschaft, seine Träume, seine Hoffnung, seine zerstörte Biografie und sein vernichtetes Leben.

In seinem Grußwort zu Beginn der Gedenkaktion berichtete Oberbürgermeister Andreas Bausewein am Beispiel der Internationalen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem, wie sehr ihn dort die Nennung von Millionen Opfern in der Halle der Namen berührt habe. "Mit der Schreibaktion holen wir das Gedenken an die Orte, an die es gehört, denn diese Menschen verschwanden vor aller Augen“ sagte Rikola-Gunnar Lüttgenau, der Vertreter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora. Der Hauptbahnhof Erfurt ist ein solcher Ort. Von dort wurden 101 Menschen aus Erfurt am 9. Mai 1942 erst nach Weimar und dann ins Ghetto Bełżyce deportiert wurden. Dieser öffentliche Platz zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Shoah nicht weit entfernt stattfand, verborgen vor den Augen der Bevölkerung, sondern dass der tief verwurzelte Antisemitismus, die Empathielosigkeit, und die Mittäterschaft der deutschen Zivilgesellschaft die Vernichtung von Juden und Jüdinnen erst ermöglichte.

Mit der Schreibaktion wurden die Namen derer, die vor 80 Jahren aus Erfurt verschleppt wurden und von denen niemand überlebte, nun ins Zentrum der Stadt zurückgeholt. "Wir setzen uns ein für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit statt Ausgrenzung, Hass und Gewalt. Nationalismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus zerstören die Gesellschaft. Wir schreiben gegen das Vergessen.", so die Projektleiterin PD Dr. Annegret Schüle vom Erinnerungsort Topf & Söhne in ihrer Ansprache. Die Aktion stieß auf großes Interesse und zahlreiche Erfurterinnen und Erfurter beteiligten sich auch noch spontan an der Schreibaktion.

Die Flüchtigkeit der mit Kreide geschriebenen 474 Namen, die nur für eine gewisse Zeit auf dem Pflaster zu lesen waren, verweist umso mehr auf unsere gemeinsame Verantwortung, die Verbrechen der Nationalsozialisten und die Namen der Opfer nicht aus unserem Gedächtnis verschwinden zu lassen.

Zukünftige Projekte

Im Rahmen des Kooperationsprojektes sind weitere Schreibaktionen in Meiningen und Gera geplant, bei denen ebenfalls der ermordeten jüdischen Bewohner/- innen der beiden Städte gedacht wird. Seinen Abschluss findet dieser Teil des Projektes am 19. September auf dem Stéphane-Hessel-Platz in Weimar, mit der Niederschrift aller Namen, die bis dato geprüft und dokumentiert werden konnten.

Um auch dauerhaft an die Thüringer Opfer der Shoah zu erinnern, wird im Zuge des Projektes ein digitales Gedenkbuch entstehen, das am 1. September freigeschaltet wird.

Das Kooperationsprojekt sensibilisiert für ein respektvolles und solidarisches Miteinander. "Die neun Jahrhunderte jüdischen Lebens in Thüringen zeugen davon, dass Jüdinnen und Juden nicht nur Opfer sondern auch Leistungsträger sind. Das Gedenken an die Toten ist wichtig. Genauso wichtig ist es, Respekt zu erwirken. Und es ist schwer Respekt zu haben vor dem was man nicht kennt“, so Prof. Dr. Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen zu dem Gedenkprojekt. Deshalb wird im Rahmen des Projektes ein Bildungsprojekt mit Jugendlichen umgesetzt, bei dem die Teilnehmenden sich mit religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Aspekten jüdischen Lebens auseinandersetzen. Ab September werden diese kostenfreien Seminare am Erinnerungsort Topf und Söhne angeboten, bei denen Jugendliche unter anderem mithilfe einer VR Brille in die jüdische Geschichte Erfurts eintauchen und die 1884 geweihte und 1938 zerstörte große Synagoge live erkunden können.

Bildungsangebot

Foto: In dem Seminar "Zusammenleben in Vielfalt" erkunden Jugendliche die alte Synagoge mit einer VR-Brille. Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

Teil des Erinnerungsprojektes 80 Jahre nach den Deportationen ist ein Seminar für Jugendliche ab Klasse 9 zum jüdischen Leben, seiner Zerstörung im Nationalsozialismus und den Gefahren des Antisemitismus heute.
Die Teilnehmenden setzen sich mit religiösen, kulturellen und gesellschaftlichen Aspekten jüdischen Lebens auseinander und erkennen es als einen wichtigen Bestandteil der Geschichte und Gegenwart. Mithilfe einer VR-Brille können sie in die jüdische Geschichte Erfurts eintauchen und die 1884 geweihte und 1938 zerstörte Große Synagoge virtuell erkunden.

Anhand der Biografien jüdischer Erfurterinnen und Erfurter erfahren sie von der antisemitischen Diskriminierung im Alltag und der Radikalisierung der Gewalt bis zur Shoah. Sie entwickeln dabei ihre eigenen Fragen und verknüpfen so die gemeinsam erarbeitete Geschichte mit ihrer Gegenwart. Sie setzen sich dadurch mit den Zusammenhängen von Vorurteilen und politischer Verfolgung im Nationalsozialismus, der Wirkungsweise von Diskriminierung in Geschichte und Gegenwart und der Bedeutung von Grundrechten für das Individuum und die Gesellschaft auseinander.

Das Seminar dauert 6 Stunden und ist kostenfrei. Es wird zu festen Terminen ab September 2022 angeboten.

Die Nutzung der VR-Brille mit der Anwendung der Großen Synagoge ist nach Anmeldung auch Einzelbesucher/- innen möglich.

Kontakte und Förderung

Wissenschaftliche Leitung: PD Dr. Annegret Schüle, topfundsoehne@erfurt.de
Seminar, Gedenkbuch und VR-Brille: Leonie Dellen, gedenkbuch.topfundsoehne@erfurt.de

Gefördert vom Thüringer Ministerium für Bildung, Jugend und Sport im Rahmen des Thüringer Landesprogramms für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit "DenkBunt"