Ansprache von PD Dr. Annegret Schüle, Projektleiterin und Oberkuratorin am Erinnerungsort Topf & Söhne, zum Gedenktag am 9. Mai 2022

09.05.2022 11:00

"Wir setzen uns ein für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit statt Ausgrenzung, Hass und Gewalt. Nationalismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus zerstören die Gesellschaft. Wir schreiben gegen das Vergessen."

Foto: PD Dr. Annegret Schüle Foto: © Stadtverwaltung Erfurt/Erinnerungsort Topf & Söhne

Alexander Nachama, der Rabbiner der jüdischen Landesgemeinde, trug das Gedenkgebet "El male rachamim" und die Übersetzung vor. In diesem Gebet für die Opfer der Shoah hat er 27 Orte genannt. Das waren die Ghettos, Erschießungsorte, Tötungsanstalten der "T4"-Aktion, Internierungs-, Konzentrations- und Vernichtungslager, an denen die Menschen aus Erfurt ermordet wurden, deren Namen wir heute schreiben.

Wir schreiben diese Namen heute, weil genau vor 80 Jahren die erste große Deportation von Erfurter Jüdinnen und Juden hier an diesem Bahnhof begann. Der jüngste unter den 101 Deportierten war der vierjährige Günther Beer, für den am Domplatz 23 eine DenkNadel steht. Die Menschen wurden von der Gestapo gezwungen, den Zug nach Weimar zu besteigen. Dort mussten sie die Nacht in der Viehauktionshalle verbringen, wurden von SA-Leuten misshandelt und ihrer Wertsachen beraubt.  Am nächsten Morgen wurden sie in ein von den Deutschen eingerichtetes Ghetto im polnischen Bełżyce – auch dieser Ort war im Gedenkgebet zu hören – verschleppt. Niemand von ihnen kehrte zurück, niemand überlebte die Shoah.

Diese Schreibaktion heute und drei weitere in Meiningen, Gera und Weimar, die im September folgen werden, wurden ermöglicht durch das Thüringer Landesprogramm DenkBunt. Genau darum geht es: Wir setzen uns ein für Demokratie, Toleranz und Weltoffenheit statt Ausgrenzung, Hass und Gewalt.

Nationalismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus zerstören die Gesellschaft. Wir schreiben gegen das Vergessen, wir erforschen gemeinsam mit vielen Partnern an den einzelnen Orten wie mit der Leiterin des Meininger Stadtarchivs Dr. Iris Helbing die Schicksale der Verfolgten und Ermordeten für ein digitales Thüringer Gedenkbuch und wir fördern in Bildungsangeboten im Erinnerungsort Topf & Söhne das Wissen um die jüdische Geschichte und Gegenwart und damit die Empathie.

Es macht Mut, dass wir viele sind und dass unsere Vielfalt uns stärkt: Beteiligt sind heute hier die Omas gegen rechts, die Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung, der Förderkreis Erinnerungsort Topf & Söhne e.V., die Initiator/-innen aus der Kulturszene von „Gold statt Braun“ und viele andere. Die Aktion erreicht nicht nur die Menschen, die heute über diesen Platz gegen, sondern per Livestream viele weitere.

Liebe Margarete Rabow: Sie haben diese Gedenkaktion „Schreiben gegen das Vergessen“ künstlerisch entwickelt und mit ihrem Team hier nach Thüringen gebracht. Danke für diese neue, sehr berührende Form des Gedenkens. Ich freue mich, dass Oberbürgermeister Andreas Bausewein und der Beigeordnete für Kultur und Stadtentwicklung Dr. Tobias Knoblich heute hier sind und mitschreiben.  Für ihre Kooperation danke ich der jüdischen Landesgemeinde und insbesondere dem Vorsitzenden Prof. Reinhard Schramm und Landesrabbiner Alexander Nachama, der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, dessen Vertreter Rikola-Gunnar Lüttgenau nach mir zu uns spricht, der Thüringer Universitäts- und Landesbibliothek sowie der Landeszentrale für politische Bildung, die heute durch den Leiter Franz-Josef Schlichting und Michael Panse sowie und ihre Publikationen zur jüdischen Verfolgungsgeschichte in Thüringen vertreten ist. Unsere Schreibaktion wird von den Musiker/-innen der String Company begleitet. Danke für diese besondere Form des Gedenkens.