Yoni Saly: Rede zur Eröffnung der Ausstellung „Miriams Tagebuch. Die Geschichte der Erfurter Familie Feiner“

03.05.2023 18:00

„Als ich das Tagebuch las, spürte ich sofort die Feiner-heit, obwohl es vor 90 Jahren geschrieben wurde und es vom Deutschen ins Hebräische übersetzt wurde. Ich konnte sogar meine Mutter im Schreibstil wiedererkennen und sicher auch meine Großmutter, welche ausführliche Artikel nach jeder Reise, die sie unternahm, für die Kibbuz-Zeitung schrieb.“

Foto: Yonatan (Yoni) Saly, Enkel von Miriam Ziv Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

Hallo zusammen,

Mein Name ist Yoni und ich bin Miriams Enkel. Mit mir sind heute mein Bruder Ehud und meine Tante Dalia hier, die älteste Tochter von drei Kindern, die Miriam und Avraham zur Welt brachten (mein Opa und meine Oma): Dalia, meine Mutter Drora, welche vor fünf Jahren verstarb, Joseph (welcher nach Joseph Feiner benannt wurde – Miriams Vater). Sie brachten Miriam sieben Enkel und 15 Urenkel.

Im Namen aller Familienmitglieder von Miriam Ziv möchte ich mich bei Dr. Annegret Schüle und ihrem Team, dem Oberbürgermeister der Stadt Erfurt, Herrn Andreas Bausewein und seinen Mitarbeitenden, bedanken. Ich möchte mich bedanken für das Erstellen dieser Ausstellung und Ihre großzügige Einladung, uns hier zu Gast zu haben. Danke!

Nun ein paar Worte über meine Großmutter Miriam Ziv:

In unserer Familie ist „Feiner“ eine Marke (obwohl wir den Namen nicht tragen).

Feiner, das ist eine Leidenschaft für das Leben, für die Kräfte der Natur, für die Erde und für das Wasser. Feiner ist eine unendliche, fast schon kindliche Neugier. Feiner ist ein kurzer Geduldsfaden für ärgerliche Dinge und komplexe Situationen. Feiner, das heißt Schwierigkeiten zu unterdrücken und ihre Existenz zu ignorieren. Ein Feiner zu sein, bedeutet ein heißes, ehrliches und gefühlvolles Temperament zu haben.

Wenn ein kleines Kind einige dieser Charaktereigenschaften zeigt, sagt man in unserer Familie über ihn (oder über sie) – Er ist ein Feiner!

Als ich das Tagebuch las, spürte ich sofort die Feiner-heit, obwohl es vor 90 Jahren geschrieben wurde und es vom Deutschen ins Hebräische übersetzt wurde. Ich konnte sogar meine Mutter im Schreibstil wiedererkennen und sicher auch meine Großmutter, welche ausführliche Artikel nach jeder Reise, die sie unternahm, für die Kibbuz-Zeitung schrieb. Ein leichter Schreibstil, teilweise esoterische Details und immer mit einem leichten Ton Selbsthumor.

Ein erstaunlicher Fakt ist, dass – obwohl die Familie ab 1933 enorme Umbrüche erlebte, die Entlassung des Vaters, der wirtschaftliche Absturz, der Verlust gesellschaftlicher Stellung, die Schmähung und Demütigung von Seiten der Gesellschaft und des Establishments – all dies in Echtzeit im Tagebuch kaum zur Sprache kommt. Das junge Mädchen Marion bleibt positiv und stark, voller Lebenslust und dem Verlangen, das Beste aus dem Leben auf jedem Wege zu machen.

Erst als sie nach Palästina emigrierte, als sie fast 18 war, nimmt sich Miriam (unter ihrem neuen Namen) eines sonnigen Mittags auf dem Wasserturm des Kibbuz Ginegar, der Arbeit an, das erste Kapitel ihres Lebens zusammenzufassen. Darin gesteht sie die Schwierigkeiten, den Schmerz, ihre Welt (also ihr Leben), die ihr genommen wurde und der unvermeidbar verlorene Kampf um ihre Eltern. Von dieser Stunde der Reflektion an begann sie das zweite Kapitel ihres Lebens, das einer zionistischen Pionierin im Land Israel.

Und das zweite Kapitel war in der Tat beeindruckend.

  • Miriam heiratet Avraham, eine jüdisch-tschechoslowakischen Flüchtling, und sie gründen eine Familie.
  • Sie lassen sich im Kibbuz Degania Bet nieder, da dieses nah am See Genezareth liegt, welcher Miriam an den Wannsee aus ihrer Kindheit erinnert.
  • Im Jahr 1948, als der Krieg ausbrach, wurden alle Frauen und Kinder des Kibbuz in eine sichere Gegend in der Nähe des Mittelmeers evakuiert, darunter Miriam, mit einer dreijährigen Tochter und einem drei Monate altem Baby, zusammen mit ihrer Schwester Yael (Lotte). Währenddessen bleiben Avraham und andere Männer zurück, um das Kibbuz zu beschützen und um es zu kämpfen.
  • Als Landwirtin, ein außergewöhnlicher Job zu ihrer Zeit, managte sie über 30 Jahre lang den Gemüsegarten.
  • Als Teil einer Freundesgruppe von deutschen Auswanderern gründete sie das Schwimmbad. Sie betrieb es jeden Sommer, brachte hunderten von Kindern das Schwimmen bei, coachte Teams und nahm an Wettkämpfen teil. Sie wurde eine herausragende Persönlichkeit in der Welt des Schwimmens, im Kibbuz, im Jordantal und im Staat Israel.
  • Miriam lebte bis ins Alter von 90 Jahren.
  • Und neben all den erwähnten Tätigkeiten kümmerte sie sich immer um die Familie, sie brachte allen Interesse und Liebe entgegen, beschäftigte sich mit allen möglichen Sportarten, lernte und verbesserte sich, bereiste Israel und die Welt und sie begeisterte sich für jeden Ort, als wäre sie immer noch dasselbe Kind. Sie backte Kuchen und erzählte von ihrer Vergangenheit und ihrer Familie und pflegte den Kontakt zu alten und neuen Freunden, welche sie mit den Jahren fand.

Und wer das Tagebuch nochmal liest, kann mit Leichtigkeit Hinweise zwischen den Worten finden. Hinweise auf fast jede Entscheidung und alles, was sie in ihrem Leben tat.

Danke euch, den Mitarbeitenden des Erinnerungsortes Topf & Söhne, den Mitarbeitenden der Stadt, dass ihr uns hierher eingeladen habt und uns die Möglichkeit gegeben habt, ein Teil dieser Erinnerung an unsere Familie zu sein. Eine Kultur und eine Welt, die nicht mehr ist.

Übersetzung aus dem hebräischen Original: Ignaz Szlacheta