Annegret Schüle: Einführung in die Ausstellung „Miriams Tagebuch. Die Geschichte der Erfurter Familie Feiner“

03.05.2023 12:00

„Gerade an diesem Erinnerungsort können und müssen wir begreifbar machen, wie mit der Familie Feiner einerseits und der Familie Topf andererseits aus Nachbarinnen und Nachbarn im Nationalsozialismus Opfer und Mittäter werden konnten, wie das Menschheitsverbrechen von den einen erlitten und von den anderen ermöglicht wurde.“

Foto: Annegret Schüle, Oberkuratorin des Erinnerungsortes Topf & Söhne Foto: © Schüle

Sehr geehrte Damen und Herren,

Sie hörten die erste Strophe von Ma'oz Tzur, gesungen von Landesrabbiner Alexander Nachama.

Der Text dieses Liedes stammt aus dem späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert und ist damit fast so alt wie die mittelalterliche Synagoge in Erfurt. Es thematisiert die Vertreibung und Verfolgung des jüdischen Volkes, preist Gott für seine Hilfe und ruft ihn um Rache und Rettung an.

Ma'oz Tzur ist das bekannteste und beliebteste Lied, das zu Chanukka, dem jüdischen Lichterfest im Dezember, gesungen wird. Wir haben es für den Beginn der Ausstellungseröffnung ausgewählt, weil Marion Feiner in den drei Wintern in Erfurt 1935 bis 1937, über die sie in ihrem Tagebuch berichtet, immer wieder vom Chanukka-Fest erzählt.

Herzlichen Dank an Landesrabbiner Alexander Nachama für diese Eröffnung des Abends.

Ich begrüße Oberbürgermeister Andreas Bausewein und Ruth Ur, Geschäftsführerin des Freundeskreises Yad Vashem, und danke ihnen für ihr Engagement für diese Ausstellung und ihre Grußworte. Bedanken möchte ich mich auch bei dem Beigeordneten Dr. Tobias J. Knoblich, der uns ein wichtiger Partner für das Gelingen der Ausstellung war.

Mit großer Freude begrüße ich unter den Gästen Dalia Ziv, die Tochter von Miriam Ziv, sowie Yonathan und Ehud Saly, die Söhne von Miriam Zivs zweiter Tochter Drora. Die drei sind auf Einladung des Oberbürgermeisters zu uns aus Israel gekommen, auf den Spuren ihrer Mutter und Großmutter, die von 1928 bis 1938 als Marion Feiner mit ihrer Schwester Charlotte und ihren Eltern Joseph und Adele Feiner in Erfurt lebte und die sich nach ihrer Auswanderung nach Palästina Miriam nannte.

Ein herzliches Willkommen geht auch an die Jugendlichen der Schotte mit ihren Theaterpädagoginnen Katrin Heinke und Steffi Lang. Zum Abschluss unserer Eröffnung werden uns die Schülerinnen aus dem Tagebuch, das im Zentrum unserer Ausstellung steht, eine szenische Lesung darbieten.

Vor fast einem Jahr, am 9. Mai 2022, schrieben Andreas Bausewein und ich gemeinsam mit vielen anderen Bürgerinnen und Bürgern mit Kreide die Namen von 474 Erfurterinnen und Erfurter auf den Bahnhofsvorplatz, die zwischen 1933 und 1945 dem Antisemitismus zum Opfer fielen. Unter diesen von den Nationalsozialisten ermordeten Menschen waren Adele und Joseph Feiner. Damals kannte ich ihre Geschichte noch nicht und ich wusste auch nichts von dem Tagebuch, das ihre Tochter an ihrem 14. Geburtstag im Dezember 1935 hier ganz in der Nähe, in der Kruppstraße 11, jetzt Klausener Str. 11, begonnen hatte. Am Rande dieser Schreibaktion sagte mir Andreas Bausewein, dass er eine Anfrage von Yad Vashem bekommen habe und dass er bald mit weiteren Informationen auf mich zukomme.

Und nun sind wir heute hier und eröffnen gemeinsam mit Nachkommen von Marion Feiner die Sonderausstellung "Miriams Tagebuch. Die Geschichte der Erfurter Familie Feiner".

Warum ist diese Ausstellung so wichtig für den Erinnerungsort Topf & Söhne und für Erfurt?

Wir befinden uns hier im ehemaligen Verwaltungsgebäude der Firma J. A. Topf & Söhne, in der sich Unternehmer und Techniker in ihrem gewöhnlichen beruflichen Alltag an der Shoah beteiligten. "Das Ungeheuerliche behandelten sie als Normalität" steht draußen auf dem Stein der Erinnerung. Gerade an diesem Erinnerungsort können und müssen wir begreifbar machen, wie mit der Familie Feiner einerseits und der Familie Topf andererseits aus Nachbarinnen und Nachbarn im Nationalsozialismus Opfer und Mittäter werden konnten, wie das Menschheitsverbrechen von den einen erlitten und von den anderen ermöglicht wurde.

"Ich war 6 Jahre alt, als wir nach Erfurt zogen. [...] Es ging uns sehr gut. Lotte und ich wuchsen heran und in dem Alter, wo man aufhört, Kind zu sein, kam Hitler und mit ihm Zerstörung, Not und Elend."  So beschrieb Marion Feiner ihre Kindheit und Jugend in ihrem Tagebuch. Als die Nationalsozialisten im Januar 1933 die Macht in Deutschland übernahmen, war sie 11 Jahre alt. Als sie kurz nach ihrer älteren Schwester Charlotte, auch Lotte genannt, Deutschland für immer verließ, um ihr Leben zu retten, war sie gerade 16 geworden.

Jugendliche heute mit der historischen Erfahrung von Ausgrenzung, Verfolgung und Selbstbehauptung von Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus zu erreichen – wie könnte das besser gehen als durch die aufgeschriebenen Gedanken eines jungen Menschen ihren Alters? Wie könnten Antisemitismus und generell Ausgrenzung von Minderheiten aus der Gesellschaft als Gefahr für Demokratie und Vielfalt besser verstanden werden, als wenn sie als Einbruch in den Alltag eines jungen Menschen sichtbar werden?

Marion Feiner vertraute ihrem Tagebuch an, wie ihre Eltern krank wurden durch die Entrechtung, die Verarmung und die Trennung von den Kindern. Sie schrieb gleichzeitig darüber, wie der Zusammenhalt in der Familie wuchs und sich schließlich doch nur die Kinder retten konnten. In ihrem Tagebuch lernen wir ein junges Mädchen kennen, das sich mit dem Rückhalt ihrer Eltern mutig und mit starkem Willen dem Antisemitismus in ihrer Umgebung entgegen stellte, sich zunehmend mit dem Zionismus beschäftigte und mit dem Aufbruch in ein zunächst hartes Leben in Palästina für sich eine Zukunft fand.

Anders als Marion und ihre Schwester Charlotte, die Anfang 1938 mit dem Programm der Jugendalijah nach Palästina auswandern durften, wurden ihren Eltern eine Einreise in das von den Briten verwaltete Mandatsgebiet verwehrt. Weder konnte der Vater einen von den Behörden verlangten Beruf im landwirtschaftlichen oder handwerklichen Bereich nachweisen noch verfügte er – nach Berufsverbot und damit einhergehenden Verarmung – über das alternativ geforderte Vermögen.

Die Eltern wurden am 28. Oktober 1938 in der so genannten „Polenaktion“, der ersten Massendeportation von Jüdinnen und Juden wenige Tage vor den Novemberpogromen, aus Deutschland ausgewiesen. Die Abschiebung nach Polen betraf 17.000 Jüdinnen und Juden polnischer Staatsangehörigkeit, darunter etwa 100 Erfurterinnen und Erfurter. Joseph und Adele Feiner hatten nie in Polen gelebt, sie hatten die polnische Staatsangehörigkeit nur deshalb, weil ihre zu Österreich-Ungarn gehörenden Geburtsorte in Galizien nach dem Ersten Weltkrieg polnisch wurden.

An der deutsch-polnischen Grenze wurden die Eltern getrennt, Adele Feiner sollte erst im polnischen Konsulat ihren Pass verlängern und kehrte deshalb alleine nach Erfurt zurück. Ein halbes Jahr später durfte der Vater noch einmal nach Erfurt zurückkommen, doch nur, um gemeinsam mit seiner Frau die Wohnung aufzulösen. Weit unter Wert mussten sie ihren Hausrat verkaufen oder einfach zurücklassen. Ab Juli 1939 lebten beide bei der Schwester von Adele Feiner im polnischen Lwów. Von dort aus bemühten sie sich weiter um eine Auswanderung nach Palästina.

Mühsam hielten Eltern und Kinder Kontakt über Postkarten. 12 Postkarten der Eltern haben die Töchter ihr ganzes Leben lang aufgehoben, drei von ihnen sehen Sie in der Ausstellung.

Ende Juni 1941 besetzten die Deutschen Lwów. Sie begannen sofort mit der Verfolgung der dort lebenden Jüdinnen und Juden und ermordeten fast alle von ihnen. Unter den rund 120.000 Opfern waren Joseph und Adele Feiner. Ihr letztes Lebenszeichen war eine Postkarte an ihre Tochter Miriam vom 21. März 1941. Sie wird in der Ausstellung gezeigt.

Vor der nationalsozialistischen Machtübernahme im Januar 1933 lebten 1.290 Menschen in Erfurt, die zur jüdischen Gemeinde zählten. 1945, nach der Befreiung Erfurts durch die amerikanische Armee, war von dieser großen jüdischen Gemeinde nur noch eine sehr kleine Gruppe von 42 früheren Erfurterinnen und Erfurtern übrig. Die wenigsten von ihnen hatten in der Stadt selbst überlebt, andere kehrten aus Lagern oder der Emigration zurück.

506 Erfurterinnen und Erfurter wurden aufgrund ihres jüdischen Glaubens und ihrer jüdischen Herkunft ermordet – das wissen wir inzwischen durch die Arbeit am digitalen Gedenkbuch für die ermordeten Thüringer Jüdinnen und Juden.

Was ist aus den Menschen geworden, die sich noch aus dem Herrschaftsbereich der Nazis retten konnten, unter dem Verlust ihrer Heimat, ihres Besitzes und auch oftmals unter dem Verlust ihrer Liebsten? Diese Ausstellung ermöglicht zum ersten Mal, das Schicksal eines Menschen, Miriam Ziv, geb. Marion Feiner, bis zu ihrem Lebensende vor elf Jahren, am 5. Mai 2012, zu verfolgen.

„Nur, dass ich hier um mich meine liebe Familie habe, gibt mir die Kraft weiter zu machen“, schrieb Miriam Ziv 1999 an die Erfurterin Helma Bräutigam, die damals in der Forschungsgruppe „Geschichte der Juden im nationalsozialistischen Thüringen“ tätig war und mit Miriam Ziv seit deren einzigen Besuch in Erfurt 1997 einen langjährigen Briefkontakt pflegte. Ihr, Waltraud Misch und Ilse Bettina einen herzlichen Dank dafür, dass sie uns ihre Briefe von Miriam Ziv zur Verfügung stellten.

Ich danke meinem studentischen Team mit Sophie-Marie Hohmann, Eliza Gäde, Lina Schäfer und Ignaz Szlacheta, der Projektmanagerin Steffi Gorka, den FSJ-Freiwilligen Richard Wacker und Catherine Kallenberg, der Gedenkstättenpädagogin Katja Ganske, dem Museumstechniker André Langenfeld, Jutta Hoschek für ihre wissenschaftliche Unterstützung sowie Georg Ohlmann für die Betreuung unserer Gäste aus Israel.

Mein besonderer Dank gilt der Familie Ziv, die mit Fotos aus ihrem Privatbesitz die Ausstellung zu ihrer visuellen Qualität verhalf, sowie unserem Kooperationspartner, dem Freundeskreis Yad Vashem e.V. in Berlin, und der Internationalen Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem. Gemeinsam brachten sie das Tagebuch als ein außergewöhnliches Zeugnis der Shoah und damit die Geschichte der Erfurter Familie Feiner hier in diese Stadt zurück, wo sie hingehört. Während der gesamten Laufzeit der Ausstellung von über einem Jahr sehen Sie eine originalgetreue Nachbildung des Tagebuchs. Anfang Juni, nach Beendigung der Ausstellung „Sechzehn Objekte. Siebzig Jahre Yad Vashem“ im Unesco-Welterbe Zollverein in Essen, wird das Original des Tagebuchs für vier Wochen unter besonderen konservatorischen Bedingungen in einer eigenen Vitrine besichtigt werden können. Ein weiterer Besuch in der Ausstellung wird sich im Juni auch deshalb lohnen, weil Sie dann die auch Ausstellungsinhalte in einer Publikation mit nach Hause werden nehmen können.

Der Förderkreis Erinnerungsort Topf & Söhne e. V. war uns bei der Erarbeitung der Ausstellung wie immer ein starker und verlässlicher Unterstützer. Nicht zuletzt wird er sie nach Ende des Programms hier im Saal zu einem Glas Wein einladen.

Besonders wichtig ist uns, dass Sie, die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung, in dem Tagebuch lesen können. Die VST GmbH Saalfeld hat für uns eine App geschrieben, mit der wir in der Ausstellung über Tablets die 114 Seiten handschriftlich sowie transkribiert in Druckschrift mit Erläuterungen einem breiten Publikum zugänglich machen können. Herzlichen Dank an Sören Jacobshagen von VST für die gute Zusammenarbeit und das gelungene Produkt.

Diese Tablets mit dem Tagebuch stehen auch den Jugendlichen beim forschenden Lernen in den Seminaren zur Ausstellung zur Verfügung. Diese Seminare und die Führungen, die wir für Schulklassen und andere Besuchergruppen anbieten, sind ein wichtiger Beitrag in der Bildungsarbeit gegen Antisemitismus und für Vielfalt, Demokratie und Menschenrechte.

Sie fragen sich vielleicht, warum wir für die das Design der Ausstellung ein lichtes Blau gewählt haben: Blau wie das Wasser und der Himmel darüber. Miriam Ziv war ein Schwimmtalent, die Fortbewegung im Wasser war für sie seit ihrem vierten Lebensjahr zur zweiten Natur geworden. Diese Leidenschaft ließ sie sich auch von den Nationalsozialisten nicht nehmen und sie spielte auch in ihrem Leben in Israel eine große Rolle, wie Sie in der Ausstellung erfahren werden.

Ich bitte nun Tjaade Kriegelstein, Tove Lemke, Marlene Meyer, Julina Rödiger und Merit Roos auf die Bühne. Die Jugendlichen des Theaters Die Schotte lesen für Sie aus dem Tagebuch von Marion Feiner.