Ansprache von Annegret Schüle, Oberkuratorin des Erinnerungsortes Topf & Söhne, zur Eröffnung der Ausstellung "Täter, Opfer, Zeugen. Die 'Euthanasie'-Verbrechen und der Prozess in Dresden 1947"

15.06.2022 11:10

"Es ist für uns ein Meilenstein in unserer inklusiven Arbeit und es stellt ein Novum in der städtischen Museumslandschaft dar, dass wir mit dem heutigen Tag den Begleitband zur Ausstellung "Wohin bringt ihr uns?" nicht nur in Standardsprache, sondern auch in Leichter Sprache an die Öffentlichkeit übergeben."

Foto: Priv.-Doz. Dr. Annegret Schüle eröffnet die Sonderausstellung "Täter, Opfer, Zeugen. Die 'Euthanasie'-Verbrechen und der Prozess in Dresden 1947" Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

Sehr geehrte Gäste, liebe Freundinnen und Freunde des Erinnerungsortes Topf & Söhne,

ich danke Liene Henkel am Klavier und Eugen Mantu am Violoncello. Sie werden uns im Laufe des Abends noch zwei weitere Musikstücke darbieten.

Wir eröffnen heute die Ausstellung "Täter, Opfer, Zeugen. Die 'Euthanasie'-Verbrechen und der Prozess in Dresden 1947".

Mit dem Themenfeld des Massenmordes an Menschen mit geistiger, psychischer oder körperlicher Beeinträchtigung, von den Nationalsozialisten zynisch verschleiernd "Euthanasie", also "schöner Tod" genannt, setzen wir uns als Erinnerungsort Topf & Söhne seit 2015 auseinander.

Damals starteten wir unsere Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe Erfurt mit einer gemeinsamen Projektwoche "Erinnern an die 'Euthanasie' in der Nazi-Zeit", die Vorträge, eine kleine Wanderausstellung aus der Gedenkstätte Bernburg und Filme umfasste und in der das Team des Erinnerungsortes in Workshops mit den Mitarbeiter/-innen der Lebenshilfe zur Geschichte der "Euthanasie" und zu den aktuellen Fragen gesellschaftlicher Inklusion und der Diskriminierung von Menschen mit Beeinträchtigung arbeitete.

Dass es der Lebenshilfe Erfurt wichtig war, dieses erste Kooperationsprojekt mit uns als einen wesentlichen Beitrag zu ihrem eigenen 25-jährigen Jubiläum zu realisieren, zeigte bereits sehr deutlich, dass die Lebenshilfe in der Erinnerung an die Ermordeten der "Euthanasie" und die Auseinandersetzung mit den Tätern ein grundlegendes Element der Inklusion in der Gesellschaft heute sieht. Ihre Beobachtung, dass Vertreter rechtspopulistischer und rechtsextremer Haltungen gezielt versuchen, Männer mit geistiger Beeinträchtigung politisch zu beeinflussen, bestärkte die Lebenshilfe darin, Menschen mit Beeinträchtigung eine historisch-kulturelle Teilhabe auch in diesem Themenfeld zu ermöglichen.

Die Projektwoche vor genau sieben Jahren, nämlich vom 2.-11. Juni 2015, war ein beeindruckender Start und bis heute haben wir auf unserem gemeinsamen Weg sehr gute weitere Ergebnisse erreicht, von denen ich einige nun kurz vorstelle.

Sonderausstellung "Wohin bringt Ihr uns? 'Euthanasie'-Verbrechen im Nationalsozialismus"

Mit der Sonderausstellung "Wohin bringt Ihr uns? 'Euthanasie'-Verbrechen im Nationalsozialismus", die wir 2020, 80 Jahre nach dem Beginn der "T4"-Aktion als erster zentral gelenkter Phase des Mordprogramms und leider mitten in der Pandemie eröffneten, haben wir ein wissenschaftliches Fundament gelegt, um das Thema der "Euthanasie"-Morde sowie ihrer Vor- und Nachgeschichte dauerhaft in die Vermittlungsarbeit des Erinnerungsortes integrieren zu können. Die von Lisa Caspari, damals unsere wissenschaftliche Volontärin und heute Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar, auf dem neuesten Forschungsstand und durch intensive eigene Archivrecherchen erarbeiteten Inhalte bieten eine so gute und anschauliche Zusammenfassung, dass wir uns entschlossen haben, einen Begleitband mit allen Inhalten dieser Ausstellung zu erstellen, den ich heute an die Öffentlichkeit übergeben darf. Zu einzelnen Verbrechenskontexten wie die Zwangssterilisation und der Widerstand dagegen, die "T4"-Aktion, die "Sonderbehandlung 14f13", also die Ermordung arbeitsunfähiger KZ-Häftlinge, und die dezentralen Morde durch überdosierte Medikamente, systematischen Nahrungsentzug und vorenthaltende medizinische Versorgung hat Lisa Caspari Schicksale aus Erfurt und Thüringen recherchiert.

Begleitband in Leichter Sprache - Meilenstein in unserer inklusiven Arbeit

Es ist für uns ein Meilenstein in unserer inklusiven Arbeit und es stellt ein Novum in der städtischen Museumslandschaft dar, dass wir mit dem heutigen Tag den Begleitband zur Ausstellung "Wohin bringt ihr uns?" nicht nur in Standardsprache, sondern auch in Leichter Sprache an die Öffentlichkeit übergeben. Dafür haben wir mit capito Berlin - Büro für barrierefreie Informationen zusammengearbeitet. In einem engen und aufwändigen Abstimmungsprozess mit den Kuratorinnen der Ausstellung, Lisa Caspari und mir, hat Andreas Wessel von capito Berlin die Texte für Leichte Sprache adaptiert und eine Bildauswahl getroffen. Den fertig gestalteten Text ließ capito dann von vier Testpersonen mit geistiger Beeinträchtigung überprüfen. Sie sind für eine solche Aufgabe geschult und werden dafür bezahlt, beschäftigen sich jedoch zuvor nicht eigens mit dem spezifischen Thema des Textes. In der Prüfung lesen sie den Text abwechselnd vor und kommentieren, ob er für sie verständlich war. Zudem werden gezielt Fragen an die Gruppe gestellt, um die Verständlichkeit zu kontrollieren. Aus der Gruppe der Testpersonen wurden einzelne Stellen angemahnt, die dann verändert wurden und es wurden auch Alternativformulierungen vorgeschlagen.

Auf die Forderung der Testgruppe geht auch zurück, dass der Begleitband in Leichter Sprache gegendert ist, was eine erneute historisch-wissenschaftliche Überprüfung der Frage erforderte, wo Frauen beteiligt waren, da die Ausstellung selbst und der Begleitband in Standardsprache nicht gegendert sind.

Wenn Sie beide Hefte vergleichen, sehen Sie auch, dass wir die Broschüre in Leichter Sprache durch ein Glossar ergänzten, das Begriffe wie "Euthanasie", "Sterilisation", "Tötungsanstalten" und "Konzentrationslager" kurz erklärt.

Für die Gestaltung beider Begleitbände wie auch für die Ausstellung "Wohin bringt ihr uns?" zeichnet Tina Zürner von ungestalt. Kollektiv für Kommunikationsdesign in Leipzig verantwortlich. Die Herausgabe beider Begleitbände wurde von der Thüringer Staatskanzlei finanziell gefördert, die Übertragung in Leichte Sprache finanzierte "Barrierefrei erinnern – Das Zentrum für Thüringen".

Große Fortschritte bei der inklusiven Arbeit am Erinnerungsort

Im Februar 2020 haben wir hier im Erinnerungsort Topf & Söhne "Barrierefrei erinnern – Das Zentrum für Thüringen", ein vom Landesverband der Lebenshilfe Thüringen und von der Lebenshilfe Erfurt getragenes und von der Aktion Mensch für fünf Jahre gefördertes Projekt, der Presse vorstellt. Seitdem haben wir unsere Zusammenarbeit mit der Lebenshilfe um viele Facetten erweitert. Darüber werden die zwei Mitarbeiterinnen von Barrierefrei erinnern, Anja Schneider und Claudia Müller, nachher berichten.

Ganz druckfrisch informiert der Flyer "Geschichte inklusiv. Was geschah mit Willi?" über Tandemführungen, die Menschen mit Beeinträchtigung mitgestalten, und Workshops in einfacher und Leichter Sprache.

Willi Kirmes war ein kreativer und lebhafter, mitunter schwieriger Junge aus Erfurt, der ohne Eltern mit schlechten Chancen ins Leben startete und mit 16 Jahren in der Tötungsanstalt Bernburg mit Gas ermordet wurde. Seine berührende Geschichte, die in "Wohin bringt ihr uns?" erstmals veröffentlicht wurde, schafft nicht nur einen Zugang zur Auseinandersetzung mit den "Euthanasie"-Verbrechen in den inklusiven Angeboten, sondern ist auch ein wichtiges Element in den Präsenz- und Onlineseminaren, die wir zu den "Euthanasie"-Verbrechen in Standardsprache anbieten.

Ausstellung erweitert um "NS-'Euthanasie' vor Gericht. Der Prozess vor dem Landgericht Dresden"

Indem wir die Ausstellung "Wohin bringt Ihr uns?" mit der Wanderausstellung der Gedenkstätten Pirna Sonnenstein und Münchner Platz Dresden "NS-'Euthanasie' vor Gericht. Der Prozess vor dem Landgericht Dresden" kombinieren und heute unter dem Titel "Täter, Opfer, Zeugen" eröffnen, gewinnen wir einen verstärkten Fokus auf die gesellschaftliche und juristische Auseinandersetzung im Nachkriegsdeutschland. Dieser Prozess in Dresden, der am 16. Juni 1947 und damit fast auf den Tag vor 75 Jahren eröffnet wurde, war einer der wichtigsten "Euthanasie"-Prozesse in Deutschland und der wichtigste im Osten des Landes. Er wurde durch Ermittlungen der sowjetischen Militäradministration in Sachsen und der Polizei sowie durch Anzeigen von Angehörigen der Opfer ausgelöst und war ein engagierter Versuch, den Mord an Unschuldigen mit rechtsstaatlichen Mitteln zu sühnen. Für uns ist es wichtig, am Beispiel der Ausstellung über den Dresdner Prozess die Nachkriegsgeschichte genauer beleuchten zu können, weil nun Angehörige zu Wort kommen, die mit ihren Anzeigen Ermittlungen angestoßen haben, und Täter/- innen zu ihren Taten Stellung nehmen mussten.

Vergegenwärtigen wir uns: Opfer der "Euthanasie"-Morde in Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten wurden etwa 300.000 Menschen mit geistigen, psychischen oder körperlichen Beeinträchtigungen. In der ersten Mordphase nach Beginn des Krieges 1940/41, in der "T4"-Aktion, wurden über 70.000 Patient/-innen aus Heil- und Pflegeanstalten in sechs Tötungsanstalten, darunter Pirna-Sonnenstein, mit Gas umgebracht. Unter den fast 14.000 Opfern in Pirna-Sonnenstein waren auch viele Menschen aus Thüringen.

Im Verlauf des Krieges wurde das gezielte Ermorden auf arbeitsunfähige KZ-Häftlinge, Bewohner/-innen von Altenheimen, Bombengeschädigte, traumatisierte Wehrmachtssoldaten und SS-Angehörige, Zwangsarbeiter/-innen und Fürsorgezöglinge ausgeweitet.

Vor Gericht in Dresden standen Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern der Tötungsanstalt Pirna-Sonnenstein und der dazu gehörigen Zwischenanstalt Großschweidnitz. Eine Verteidigungsstrategie der Angeklagten bestand darin, sich auf die Diskussion vor 1933 zu berufen, wo bereits namhafte Wissenschaftlicher aus der Unterscheidung von "lebenswertem" und "lebensunwertem" Leben die Forderung ableiteten, Menschen mit Behinderungen zu töten. Tatsächlich trieben die Nationalsozialisten eine schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts geführte Diskussion zu einer mörderischen Konsequenz.

Diese Vorgeschichte und ihre Folgen sollten wir immer vor Augen haben, wenn wir über die Diskriminierung und die Rechte von Menschen mit Behinderungen oder chronischer Erkrankung heute nachdenken.

Die Mittäterschaft von Ofenbau-Unternehmen an den Massenverbrechen

Die Bezüge der Ausstellung "Täter, Opfer, Zeugen" zum Hauptthema des Erinnerungsortes, der Mittäterschaft eines ganz normalen Unternehmens am nationalsozialistischen Massen- und Völkermord, liegen auf der Hand.

Bei den "Euthanasie"-Verbrechen wurden erstmals Menschen von den Nationalsozialisten selektiert, die einen durften weiterleben, die anderen wurden ermordet. Die Täter, von der "T4" beauftragte Ärzte, befürworteten die Ermordung von Patient/-innen in den Heil- und Pflegeanstalten insbesondere wegen eingeschränkter oder fehlender Arbeitsfähigkeit oder von gerichtlich eingewiesenen Patient/-innen sowie grundsätzlich von jüdischen Patient/-innen und Sinti und Roma.

Erstmals wurden Orte eingerichtet, die zu Tötungsanstalten umfunktionierten Heil- und Pflegeanstalten, in die Menschen nur deshalb transportiert wurden, um dort ermordet zu werden.

Und erstmals wurde der Mord mit Gas strukturell und räumlich mit der Verbrennung der Getöteten in einem Ofen verbunden, der wie ein Abfallvernichtungsofen konzipiert war und alle gesetzlichen und moralischen Vorgaben einer pietätvollen Feuerbestattung missachtete.

Wir alle hier wissen, wie diese beschriebenen Prozesse im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau mit den vier großen Krematorien, in denen Gaskammern mit Leichenverbrennungsöfen von Topf & Söhne kombiniert wurden, perfektioniert wurden und so zum Menschheitsverbrechen der Shoah wesentlich beitrugen.

Neue Forschungsergebnisse in einem Publikationsprojekt des Erinnerungsortes zur Heinrich Kori GmbH in Berlin, dem Hauptlieferanten der Leichenverbrennungsöfen für die Tötungsanstalten der „Aktion T4“, zeigen zudem, dass die Erfurter Firma J. A. Topf & Söhne auch hier als Konkurrent auftrat. Mit sehr großer Wahrscheinlichkeit verkaufte Topf & Söhne im Herbst 1939 noch vor ihren Lieferungen an die Konzentrationslager Öfen an die „T4"-Zentrale. Der Kulturbruch der Verbrennung von menschlichen Leichen wie Abfall, den Topf & Söhne bis zu den Hochleistungsöfen in den Krematorien von Auschwitz-Birkenau steigerte, begann also mit den "Euthanasie"-Verbrechen.

Mit unseren Angeboten zu den "Euthanasie"-Verbrechen wollen wir insbesondere an die Thüringer Opfer erinnern und dazu beitragen, dass es für sie auch hier in diesem Bundesland einen Ort des Gedenkens und der Auseinandersetzung mit den Täterinnen und Tätern gibt. Welcher Ort in Thüringen wäre dafür besser geeignet als der Erinnerungsort Topf & Söhne?  

Wir sind uns mit der Lebenshilfe einig: Inklusion in der Gesellschaft misst sich auch daran, dass die Opfer der "Euthanasie" ihren Platz in der öffentlichen Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus erhalten. Das Anliegen der Ausstellung ist es, diesen lange vergessenen, ja verdrängten Opfern des nationalsozialistischen Terrors und der Verfolgung eine Stimme zu geben. Denn hinter jeder Akte steckt ein einzigartiger Mensch mit seinen Wünschen, Träumen und vielfältigen Interessen. Damit sensibilisieren wir auch für die Rechte und für die Würde von Menschen mit Behinderung heute.

Wir bieten spannende und berührende Begleitveranstaltungen zur Sonderausstellung: Schon nächste Woche spricht der Historiker Götz Aly über "Geteiltes Schweigen. Die Auseinandersetzung mit den 'Euthanasie'-Verbrechen in beiden deutschen Staaten" und  Anfang Juli lässt uns die Autorin Daniela Martin an der Geschichte ihrer Urgroßmutter Anna Lorenz teilhaben, die in Pirna-Sonnenstein ermordet wurde.

Und wir  haben in guter Tradition pädagogisch hochwertige Bildungsangebote konzipiert, eine Führung von einer Stunde, ein 2-Stunden- sowie ein 5-Stunden-Seminar, das die Sonderausstellung mit der Dauerausstellung verbindet. Auch ein Online-Seminar von zwei Stunden kann gebucht werden. Über die Angebote zur Ausstellung in Leichter Sprache sprechen die beiden Kolleginnen von Barrierefrei erinnern – Das Zentrum für Thüringen.

Damit bedanke ich mich fürs Zuhören, wünsche uns einen interessanten und berührenden Abend und übergebe Sie wieder an die Musik.