Verborgene Akten aus der NS-Zeit im ehemaligen Gebäude des Gesundheitsamtes entdeckt

09.08.2016 17:00

Der Gebäudekomplex Turniergasse 17, der ab 1939 und bis vor wenigen Jahren vom städtischen Gesundheitsamt genutzt wurde, wird derzeit saniert und zu Wohnungen umgenutzt. In einem großen vermauerten Hohlraum machten Bauarbeiter eine Entdeckung, die sie sofort die Arbeit einstellen ließ. Der zugemauerte Raum in einem Zwischengeschoß war voller Aktenordner.

Vier Karteikarten mit der Aufschrift "Unfruchtbarmachung gemäß § 1 des Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 13. Juli 1933" liegen auf vielen kleinen metallenen Klemmen in verschiedenen Farben.
Foto: Die metallenen Reiter geben mittels ihrer Farbe Auskunft über erbliche Krankheiten und mögliche Gründe für eine Zwangssterilisation. Foto: © Stadtverwaltung Erfurt
Dr. Antje Bauer hält einen Stapel Akten in der Hand, vor ihr stehen zwei mit Unterlagen gefüllte Kartons, im Hindergrund sieht man ein Regal mit vielen Kartons.
Foto: Dr. Antje Bauer präsentiert die gefunden Akten - 10 laufende Meter, aktuell verpackt in 50 Umzugskartons. Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

Die vom Architekten und Bauleiter an den Fundort gerufenen Geschichts­expertinnen, die Direktorin des Stadtarchives Dr. Antje Bauer und die Kura­torin des Erinnerungsortes Topf & Söhne Dr. Annegret Schüle, stellten fest, dass es sich um Akten des Gesundheitsamtes überwiegend aus der Zeit vor 1945 handelte. Sie konnten auch herausfinden, dass die Akten in den 1950er Jahren in dem Hohlraum versteckt worden sein müssen und damit über 60 Jahre unentdeckt geblieben sind. Es handelt sich um den größten Aktenfund aus dem historischen Bestand des Gesundheitsamtes, der bislang im alten Gemäuer Turniergasse gemacht worden ist.

Stichproben haben gezeigt, dass auch Akten der Abteilung für „Erb- und Rassenpflege“ unter den staubbedeckten Unterlagen sind. Diese Abtei­lungen wurden um die Jahreswende 1933/34 in allen städtischen Gesund­heitsämtern eingerichtet, um personenbezogene Daten zu sammeln. Datenschutz und Privatsphäre wurden dabei nicht nur vernachlässigt, sondern gezielt verletzt. Diese Daten benötigte die NS-Regierung für ihr Ziel „den Volkskörper zu reinigen und die krankhaften Erbanlagen allmäh­lich auszumerzen.“ Ab 1934 waren Zwangssterilisationen „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ möglich. Ab 1935 benötigten Heiratswillige ein „Ehetauglichkeitszeugnis“ des Gesundheitsamtes. Die nationalsozialisti­sche „Erb- und Rassenpflege“ führte schließlich zum Massenmord an Kranken und Menschen mit Behinderung in der „Euthanasie“-Aktion. 

Schon aus Gründen des Datenschutzes wurden die Akten mit engagierter Unterstützung des Bauherrn unverzüglich in das Stadtarchiv gebracht, wo sie nun auf ihren historischen Wert hin überprüft und archivarisch erschlossen werden. Danach stehen sie für die Forschung bereit. Schon die Stichproben haben gezeigt, dass neue historische Erkenntnisse zum Handeln der Stadtverwaltung und zum Leidensweg von Erfurter Bürgern, die Opfer des nationalsozialistischen Ausgrenzungs- und Vernichtungsprogramms wurden, zu erwarten sind.