1 00:00:00,000 --> 00:00:09,800 Ja, Guten Abend auch nochmal von mir, ich freue mich heute zu Ihnen sprechen zu können und ich danke auch für die Einladung. 2 00:00:11,801 --> 00:00:17,401 Ich bin nicht zum ersten Mal in Erfurt und ich bin auch nicht zum ersten Mal auf dem Topf & Söhne-Gelände. 3 00:00:17,864 --> 00:00:25,834 Ich habe hier vor gut 15 Jahren schon einmal auf diesem Gelände referiert, damals zum Thema Intergeschlechtlichkeit. 4 00:00:26,000 --> 00:00:40,300 Das Gelände war damals von Teilen der radikalen Linken Erfurts besetzt, die zusammen mit dem Förderkreis Geschichtsort Topf & Söhne die Ersten waren, die auf diesem Gelände nach 1945 Bildungsarbeit gemacht haben. 5 00:00:40,521 --> 00:00:50,621 Mir ist wichtig, diese Geschichte kurz in Erinnerung zu rufen. Man kann anhand ihrer ganz gut zeigen, wie deutsche Erinnerungs- und Gedenkpolitik funktioniert. 6 00:00:51,298 --> 00:01:00,098 Die - in Anführungszeichen - "Schmuddelkinder" mussten gehen und wir haben jetzt eine gewisse Form der eingehegten Institutionalisierung des Gedenkens. 7 00:01:01,315 --> 00:01:08,715 Mein Vortrag von damals hat eine thematische Parallele zu dem Thema von heute: In beiden Fällen geht es um medizinische Gewalt. 8 00:01:09,527 --> 00:01:18,327 Bei Intergeschlechtlichkeit schwingt sich die Medizin zur Instanz auf, die scharf über die zwei Geschlechterrollen wacht und diese mit aller Gewalt herstellt 9 00:01:18,325 --> 00:01:27,225 und überall in diesem Land Menschen genitalverstümmelt oder auch dafür sorgt, dass Menschen aufgrund ihres Geschlechts pränatal abgetrieben werden. 10 00:01:27,890 --> 00:01:37,290 Auch hier finden sich bis heute viele Fälle, wo intergeschlechtliche Menschen zwangssterilisiert werden und sich aufgrund von eugenischer Ideologie nicht fortpflanzen sollen. 11 00:01:37,286 --> 00:01:48,586 Im Falle der NS-"Euthanasie" ging die Medizin noch einen Schritt weiter und hat, wie Sie wissen, Menschen, die als behindert und psychisch krank stigmatisiert wurden, ermordet. 12 00:01:49,198 --> 00:01:55,514 1940 bis 1941 passierte dies im Rahmen der "Aktion T4" in Gaskammern. 13 00:01:56,615 --> 00:02:08,915 Eines dieser Opfer war meine Urgroßmutter Emilie Rau, die am 21. Februar 1941 in der NS-"Euthanasie"-Anstalt Hadamar in Hessen mit Kohlenmonoxid ermordet wurde. 14 00:02:09,710 --> 00:02:18,310 Ich führe im Folgenden aus, welche Folgen ihr Tod für meine Familie hatte und hat und wie mit ihrer Ermordung gesellschaftlich umgegangen wurde und wird. 15 00:02:18,998 --> 00:02:27,498 In diesem Zusammenhang zeige ich auf, wie die Diagnose "lebensunwert" meine ganze Familie bis mindestens in die vierte Generation prägt. 16 00:02:28,433 --> 00:02:40,933 Grundlage meiner Ausführungen sind behördliche Schriftstücke, familiäre Briefe, die Krankenakte meiner Urgroßmutter und Interviews mit der dritten und vierten Generation meiner Familie väterlicherseits. 17 00:02:42,316 --> 00:02:47,016 Vorab noch kurz etwas zu dem Begriff "Ableismus", auf den ich mich beziehe. 18 00:02:47,620 --> 00:03:00,020 Ableismus ist ein eingedeutschter Begriff vom englischen "ableism" und beschreibt die einseitige Fokussierung auf körperliche und geistige Fähigkeiten, also "ability" im Englischen. 19 00:03:00,580 --> 00:03:09,380 Mit der Bewertung dieser Fähigkeiten, werden Menschen in "behindert" auf der einen Seite, oder "normal" und "gesund" auf der anderen Seite eingeteilt. 20 00:03:10,200 --> 00:03:21,800 Der Vorteil gegenüber dem deutschen Begriff Behindertenfeindlichkeit ist einerseits, dass mit dem Fokus auf Fähigkeiten der Blick weg von "den Behinderten" auf Nichtbehinderung einerseits 21 00:03:22,415 --> 00:03:26,395 und Kategorisierung von Normierungsprozessen andererseits gelegt wird. 22 00:03:26,951 --> 00:03:38,551 Die Bordsteinkante beispielsweise ist in aller Regel nicht im engeren Sinne Ausdruck einer Feindlichkeit oder eines Vorurteils, kann sehr wohl aber Kennzeichen einer ableistischen Norm und Struktur sein. 23 00:03:39,151 --> 00:03:47,651 In ähnlicher Weise lässt sich das auf die Alltäglichkeit der Verhältnisse übertragen, die uns in aller Regel nicht als bitterböse Feindschaft gegenübertreten 24 00:03:48,029 --> 00:03:52,685 und doch einige von uns, im wahrsten Sinne des Wortes, in den Wahnsinn treiben. 25 00:03:53,177 --> 00:04:05,677 Dabei betrifft Ableismus alle Menschen, auch die, die der gesellschaftlichen Norm genügen, wobei die Folgen für die als defizitär Bewerteten in aller Regel deutlich unangenehmer und ausgrenzender sind. 26 00:04:06,314 --> 00:04:14,914 Wenn ich im Folgenden von Behinderung spreche, dann verwende ich dieses Wort als Oberbegriff für ein zu weites Herausfallen aus der Norm dessen, 27 00:04:14,979 --> 00:04:23,879 was ein Körper zu leisten im Stande sein muss, und verweigere die Differenzierung in „körperbehindert“, in „psychisch“ bzw. „geistig krank“. 28 00:04:25,018 --> 00:04:33,718 Es gibt zwei Gedenkbücher der Gedenkstätte Hadamar: Eins davon in Schwerer Sprache. Das ist das hier: "Verlegt nach Hadamar." 29 00:04:35,761 --> 00:04:40,473 Und später dann eins in Leichter Sprache "Was geschah in Hadamar in der Nazizeit?". 30 00:04:42,790 --> 00:04:46,422 In beiden wird die Biografie meiner Urgroßmutter rekonstruiert. 31 00:04:46,881 --> 00:04:58,981 Ich zitiere: "Emilie R.", der Nachname wird hier abgekürzt, "geboren 1891 in Alsfeld, heiratete 1912 den Polizeisekretär Christian R. 32 00:04:59,294 --> 00:05:07,258 Sie bekam 4 Kinder und war geistig gesund, bis 1931 Verwirrungszustände und Depressionen auftauchten. 33 00:05:07,778 --> 00:05:16,678 Zu dieser Zeit war ihr Mann wegen eines Hüftleidens krankgeschrieben, was zu größten Ängsten um den Arbeitsplatz und das Ansehen der Familie bei ihr führte. 34 00:05:17,222 --> 00:05:27,922 Am 30. November 1931 brachte ihr Mann sie erstmals in die Universitätsklinik Frankfurt, wo als Diagnose 'Ängstliche Beziehungspsychose' festgehalten wurde.“ 35 00:05:28,043 --> 00:05:37,543 Es folgen verschiedene Klinikaufenthalte. „Im August 1939 wurde sie aus dem St. Valentinus Haus in die Anstalt Eichberg verlegt 36 00:05:38,129 --> 00:05:44,169 und kam am 21. Februar 1941 mit einem Sammeltransport in die Tötungsanstalt Hadamar. 37 00:05:44,812 --> 00:05:47,212 Dort ist sie am selben Tage ermordet worden." 38 00:05:47,902 --> 00:05:58,902 Emilie Rau ist ein recht bekanntes Opfer der NS-„Euthanasie“ und wird in etlichen Publikationen erwähnt. Aus Zeitgründen gehe ich an dieser Stelle nicht genauer auf das Leben von ihr ein. 39 00:05:59,631 --> 00:06:08,831 Der Fall Emilie Rau spielt in meiner Familie eine große Rolle. An erster Stelle steht dafür das Wirken ihrer Tochter, meiner Großmutter Marie Hechler. 40 00:06:09,390 --> 00:06:13,566 In einem Rundbrief an die ganze Familie schreibt sie 1992: 41 00:06:13,957 --> 00:06:23,957 "Unsere Mutter, Großmutter und Urgroßmutter gehörte zu den vergessenen Opfergruppen des NS-Unrechts, welches bis heute für diese Gruppen nicht aufgearbeitet ist. 42 00:06:24,215 --> 00:06:31,191 Ihre Krankengeschichte, die erstmals im Dezember 1931 in der Psychiatrie Frankfurt am Main-Niederrad begann, 43 00:06:31,674 --> 00:06:36,422 wurde erst durch Spuren von unten am 17.05.1990 gefunden. 44 00:06:36,944 --> 00:06:43,284 Sie ist ein Mosaikstein in den Ausstellungsfolgen in Hadamar, die nachfolgende Generationen unterrichten soll. 45 00:06:43,855 --> 00:06:51,235 Diese Aufarbeitung gegen das Vergessen ist mühselig und bleibt politische Aufgabe für die Gruppen, die ohne Lobby sind." 46 00:06:51,231 --> 00:07:01,681 Ich möchte hier an der Stelle kurz einwerfen, dass die Begrifflichkeit "Vergessene Opfergruppen" an sich verfälschend ist. Das waren keine vergessenen, sondern bewusst ausgegrenzte Opfergruppen. 47 00:07:02,578 --> 00:07:08,926 Bei den nachfolgenden Generationen in unserer Familie blieb das Anliegen meiner Großmutter nicht folgenlos. 48 00:07:09,570 --> 00:07:15,650 "Ihr war wichtig, dass wir alle ein politisches Bewusstsein haben", sagt mein Cousin Sebastian. 49 00:07:16,135 --> 00:07:23,935 Wenn Sie sich jetzt übrigens fragen, wer die Person zwischen meiner Oma und meinem Cousin ist, das bin ich, damals noch mit langen Haaren. 50 00:07:24,486 --> 00:07:37,986 Am 10. Mai 1987 schreibt meine Großmutter anlässlich der Ermordung ihrer Mutter: "Wir waren gelähmt von Entsetzen und in langjähriger Angst vor weiteren Brutalitätsangriffen in unsere Familie". 51 00:07:38,588 --> 00:07:45,064 Ähnliche Formulierungen von "Schock", "Entsetzen " und "Angst" tauchen vielfach in ihren Beschreibungen auf. 52 00:07:45,832 --> 00:07:54,332 In einem Interview mit der BBC führt meine Großmutter aus, dass es "lange dauert, bis man darüber reden kann und die Angst davor verliert". 53 00:07:54,559 --> 00:08:03,459 Dass es nicht nur ihr so ging, verdeutlicht auch die sehr späte Gründung des "Bundes der 'Euthanasie'-Geschädigten und Zwangssterilisierten" 1987 54 00:08:03,990 --> 00:08:08,798 zweiundvierzig Jahre nach dem Ende des NS, in dem sie fortan aktiv war. 55 00:08:09,132 --> 00:08:19,502 Es hat zudem etliche Leute gegeben, die sie davor gewarnt haben über ihre Mutter und das Unrecht an den als „lebensunwert“ Ermordeten und Zwangssterilisierten zu sprechen. 56 00:08:19,891 --> 00:08:27,431 Sie folgte den Warnungen nicht, sie hat ihren Mund aufgemacht und ihr Einverständnis mit dem ableistischen Status Quo aufgekündigt - 57 00:08:27,867 --> 00:08:30,034 wo fast alle anderen geschwiegen haben. 58 00:08:30,529 --> 00:08:43,529 Dafür wurde sie mehrfach direkt bedroht. "Ich erhielt einen schlimmen anonymen Brief", hält sie 1987 als Reaktion auf ihre Leserinnenbriefe in den beiden Regionalblättern ihrer Wohngegend in Südhessen fest. 59 00:08:44,270 --> 00:08:48,120 Im Anschluss daran fährt sie für eine gute Woche zu ihren Kindern nach Berlin. 60 00:08:48,486 --> 00:08:55,410 "Ich muss Abstand gewinnen von den zurzeit überaus feindseligen Stimmungen im Kreis Bergstraße gegen Minderheiten." 61 00:08:55,906 --> 00:09:03,906 Anfang 1990 führt sie aus, dass sie schon so zermürbt ist, dass "ich nicht mehr öffentlich über meine unglückliche Mutter reden kann". 62 00:09:12,514 --> 00:09:21,414 Zu den Folgen für unsere Familie gehören an zweiter Stelle auch gesellschaftliche Dimensionen, die eine Rückwirkung auf uns als Familie hatten und haben. 63 00:09:22,053 --> 00:09:31,723 Der Umgang der einzelnen Familienmitglieder mit Emilie Rau ist unterschiedlich und lässt sich nicht losgelöst von eugenischen Ideologien betrachten, die davon ausgehen, 64 00:09:32,090 --> 00:09:36,690 dass ein psychisch krankes Familienmitglied die ganze Familie "besudelt". 65 00:09:36,763 --> 00:09:43,399 So gab es aufgrund der Psychiatrisierung meiner Urgroßmutter bis in die dritte Generation Probleme bei Eheschließungen 66 00:09:44,260 --> 00:09:49,140 und es lässt sich eine gewisse Vorsicht in der Familie bei psychischen Erkrankungen ausmachen. 67 00:09:49,858 --> 00:09:52,558 Es war eine Diagnose von Gewicht. 68 00:09:53,285 --> 00:10:04,285 An dritter Stelle der Folgen ist festzuhalten, dass es uns gibt. Wenn ich vorhin gesagt habe, dass ich froh bin heute hier zu sein, dann ist das nicht nur eine Höflichkeitsfloskel. 69 00:10:04,893 --> 00:10:12,029 Es gibt eine tiefere Bedeutung in dieser Aussage. Meine Urgroßmutter hatte schon Kinder vor ihrer Ermordung. 70 00:10:12,272 --> 00:10:18,484 Hätte sie keine Kinder gehabt, stünde ich jetzt gerade nicht hier. Es gäbe mich und meine Familie gar nicht. 71 00:10:19,413 --> 00:10:23,497 Ich lebe, nicht nur, aber auch aufgrund dieser Tatsache. 72 00:10:24,278 --> 00:10:30,078 Ich habe das in Gänze erst vor ca. 5 Jahren realisiert und das ist eine ziemlich krasse Erkenntnis. 73 00:10:30,751 --> 00:10:39,351 Viele andere leben nicht. Nämlich all die, die nicht geboren wurden, weil die im Rahmen der NS-"Euthanasie" Ermordeten keine Kinder hatten 74 00:10:39,929 --> 00:10:43,373 und auch diejenigen, die zwangssterilisiert wurden, haben keine Kinder. 75 00:10:43,996 --> 00:10:53,296 Es gibt meines Wissens nach derzeit noch ca. 50 Überlebende der NS-Zwangssterilisierten in Deutschland, die häufig sehr einsam ihrem Lebensende entgegensehen. 76 00:10:53,914 --> 00:11:00,914 Das ist eine der vielen NS-Verfolgtengruppen, denen kaum Beachtung geschenkt wird und die im öffentlichen Bewusstsein überhaupt nicht vorkommen. 77 00:11:02,810 --> 00:11:09,426 Meine Großmutter bekam die Folgen der Krise ihrer Mutter ganz handfest schon während des Nationalsozialismus zu spüren. 78 00:11:10,052 --> 00:11:16,952 1987 erinnert sie sich: "Die Krankheit meiner Mutter erlaubte kein Studium, keine Aussteuer." 79 00:11:17,420 --> 00:11:30,320 Am gravierendsten gestaltete sich die geplante Hochzeit mit ihrem zukünftigen Ehemann Ernst Hechler. "Wir verlobten uns 1937 und mussten zur Eheschließung das Ehe-Unbedenklichkeitszeugnis vorlegen." 80 00:11:30,786 --> 00:11:33,886 Was sie zwar bekamen, aber es gab Komplikationen. 81 00:11:35,777 --> 00:11:44,077 "Den Schock, den unsere Familie erlitt, haben wir nie verwunden", schreibt meine Großmutter über die Ermordung ihrer Mutter an anderer Stelle." 82 00:11:44,544 --> 00:11:48,468 "Und er schien beständig wie ein Trauma reaktualisiert zu werden." 83 00:11:49,261 --> 00:11:58,261 "Was sie besonders verbittert hat, ist der Eindruck, dass bei vielen beteiligten Tätern keine Reue, kein Verständnis für die kriminelle Seite da ist. 84 00:11:58,263 --> 00:12:03,367 Die haben sich ja im Recht gefühlt", schildert mein Cousin Sebastian seinen Eindruck. 85 00:12:03,958 --> 00:12:15,358 Meine Tante pflichtet ihrem Sohn bei: "Marie hat sich aufgeregt, weil die Kerle nicht ins Gefängnis gekommen sind. Die Ermordung ihrer Mutter hat meine Großmutter nicht losgelassen. 86 00:12:15,845 --> 00:12:24,665 Als 1986 der Prozess in Frankfurt begann, ist meine Mutter gleich am ersten Prozesstag hingefahren, um sich das anzugucken", erinnert sich meine Tante. 87 00:12:25,145 --> 00:12:29,995 "Sie hat den Prozess verfolgt, hat nur noch geweint, hat da alles gehört." 88 00:12:30,868 --> 00:12:43,368 Nicht nur meine Großmutter, auch noch meine Tante bekam bei ihrer eigenen Hochzeit 1963 - 18 Jahre nach dem NS - die Folgewirkung der Psychiatrisierung ihrer Großmutter zu spüren: 89 00:12:44,642 --> 00:12:54,662 "Am Vorabend von Maltes und meiner Hochzeit wurde Malte gewarnt, dass in meiner Familie jemand war, der geisteskrank war und dass das erblich bedingt sein könnte." 90 00:12:55,421 --> 00:13:04,151 Berufsmäßig waren in Maltes Familie viele Ärzte. Und seine Eltern haben ihm wegen der "schlechten Erbschaft " schwere Vorwürfe gemacht, erinnert er sich. 91 00:13:04,963 --> 00:13:08,839 Das Foto zeigt übrigens meine Tante, meinen Onkel und mich. 92 00:13:09,387 --> 00:13:17,239 Ihr Sohn Vinz ergänzt, dass das in seiner Familie väterlicherseits Thema war, dass der "Irrsinn bei den Hechlers ist". 93 00:13:18,014 --> 00:13:24,286 Es gibt zudem eine besondere Aufmerksamkeit für psychische Auffälligkeiten, innerhalb der Familie. 94 00:13:24,399 --> 00:13:29,839 1982 schreibt meine Großmutter einen besorgten Brief an ein anderes Familienmitglied: 95 00:13:30,372 --> 00:13:40,672 "Ich stellte in meinen Gesprächen in Lauterbach mit ziemlichen Entsetzen fest, dass das Geschehen um Emilie Rau Jahrzehnte verdrängt wurde, mit den Kindern nicht ausreichend besprochen wurde 96 00:13:40,673 --> 00:13:46,537 und dass kleinste Abweichungen von der vermeintlichen Norm längst an diesem Trauma gemessen werden." 97 00:13:47,241 --> 00:13:54,841 Die Person mit den Abweichungen, um die es sich hier handelt, ist meiner Tante nach auch "psychisch krank, hat Verfolgungszustände" 98 00:13:55,412 --> 00:14:00,048 und sie schickt nach: "Sie ist die Einzige in der Familie, die labil ist." 99 00:14:00,855 --> 00:14:06,979 Es ist dieser Nachsatz, der seine Bedeutungsschwere im Angesicht der Vernichtung Emilie Raus bekommt. 100 00:14:07,525 --> 00:14:16,655 Die Befürchtung, dass doch irgendetwas vererbt sein könnte, dass der Irrsinn in der Familie liegt, lebt fort und lässt die Familie wachsam sein. 101 00:14:17,859 --> 00:14:29,159 "Vielleicht bricht das in einigen Generationen wieder aus ", mutmaßt ein von mir interviewtes Familienmitglied und stellt Überlegungen an, ob Emilie erbkrank gewesen sei oder nicht. 102 00:14:30,296 --> 00:14:40,496 Die vierte Generation, zu der ich auch zähle, weiß von frühster Kindheit an, dass eine ihrer Vorfahrinnen im Rahmen der NS-"Euthanasie" ermordet wurde. 103 00:14:40,520 --> 00:14:47,660 Mein Cousin Sebastian sagt, "dass die Geschichte der Urgroßmutter uns Oma Marie schon als Kinder erzählt hat. 104 00:14:47,680 --> 00:14:56,880 Deshalb habe ich mich zu der Zeit damals schon mit T4 beschäftigt, weil ich auch denke, dass viele gar nicht wissen, was T4 heißt. 105 00:14:57,295 --> 00:15:04,119 Oma hatte viele Bücher zu dem Thema. Sie hatte sich damals gewünscht, da sie ja schon immer Wert darauf gelegt hat, 106 00:15:04,151 --> 00:15:10,383 dass wir uns als Kinder politisch interessieren, dass jemand aus der jüngsten Generation das auch mit wahrnimmt." 107 00:15:11,294 --> 00:15:20,444 Auch wenn alle von mir Interviewten den Umgang mit Ausgrenzung und Abweichung als überaus wichtig erachten, war der Bezug zu Emilie nicht immer konfliktfrei. 108 00:15:21,103 --> 00:15:33,403 Mein Cousin Vinz hat sich mit unserer Großmutter gestritten, weil "ich habe gesagt, die Leute interessieren sich für sie, weil das eine hübsche Frau war und so normal aussieht, aber nicht, weil sie ermordet wurde. 109 00:15:33,874 --> 00:15:40,806 Dann ist Omi sauer geworden, weil ihr ging es um 'Euthanasie' an sich, die hat das nie so an Emilie festgemacht." 110 00:15:41,656 --> 00:15:49,052 Meine Frage an die dritte und vierte Generation, ob sie einen Bezug zu Emilie haben, wird von fast allen verneint. 111 00:15:49,856 --> 00:16:01,761 Zugleich wird in diesem Zusammenhang von fast allen der Umgang mit Ausgrenzung und Abweichung zum Thema gemacht und als überaus wichtig erachtet. Auch für meinen Cousin Udo ist Emilie kein Thema. 112 00:16:02,218 --> 00:16:10,668 "Aber wenn anderen Leuten Unrecht getan wird, dann bin ich der, der sich unbeliebt macht in der Masse und sagt, dass das nicht in Ordnung ist. 113 00:16:10,688 --> 00:16:19,488 Das führe ich auch auf meine Erziehung zurück, auch geprägt von der Omi, die ein starkes Rechtsempfinden hatte, die hat uns stark beeinflusst." 114 00:16:21,024 --> 00:16:32,364 Zu den Folgen für mich ganz persönlich gehört beispielsweise, dass ich an meine Urgroßmutter denken muss, wenn ich etwas über Hadamar oder "T4" oder die Diskussion über die sog. Sterbehilfe lese. 115 00:16:32,729 --> 00:16:36,877 Es ist schon vorgekommen, dass ich weine, wenn ich über meine Großmutter spreche. 116 00:16:37,533 --> 00:16:46,703 Wörter von "T4"-Vordenkern, wie "Defektmenschen" ,"leere Menschenhülsen" , "geistig Tote", "Ballastexistenzen" und dergleichen mehr, 117 00:16:47,125 --> 00:16:50,853 evozieren bei mir ebenfalls unmittelbar Bilder meiner Urgroßmutter. 118 00:16:52,153 --> 00:17:01,053 Ich habe auch schon sehr frühzeitig angefangen mich politisch mit Gen- und Reproduktionstechnologien, Bevölkerungspolitik und Eugenik zu befassen, 119 00:17:01,217 --> 00:17:03,713 was ich auch auf meine familiäre Prägung zurückführe. 120 00:17:04,637 --> 00:17:13,187 Eine weitere Folge war, dass ich keinen staatlichen Zwangsdienst machen musste und als direkter Nachfahre einer Verfolgten des Naziregimes anerkannt wurde. 121 00:17:24,107 --> 00:17:31,857 Ich mach jetzt einen kleinen Sprung und teile mit Ihnen ein paar meiner Gedanken zu Identifizierungsprozessen und Erinnerungspolitik. 122 00:17:33,524 --> 00:17:46,124 Die Identifizierung und Empathie von behinderten Menschen mit den ermordeten behinderten Menschen im NS ist mehr als eindeutig. Sie verstehen diese Geschichte als ihre eigene. 123 00:17:46,876 --> 00:17:55,856 Es gibt eine zweite Gruppe, die sich nachvollziehbarerweise mit den als "lebensunwert" Ermordeten identifizieren und ihnen gedenken könnte. 124 00:17:56,435 --> 00:18:06,335 Die Nachfahrinnen und Nachfahren. Diese tun das hingegen kaum. Es gibt nach wie vor eine starke gesamtgesellschaftliche wie innerfamiliäre Tabuisierung. 125 00:18:07,244 --> 00:18:12,140 Es ist deutlich angenehmer in dieser Gesellschaft nicht behindert zu sein als behindert. 126 00:18:12,790 --> 00:18:20,390 Angehörige und Verwandte und Nachgeborene von ermordeten behinderten Menschen haben in aller Regel kein Selbstbild als behindert. 127 00:18:20,999 --> 00:18:26,329 Eine Identifizierung mit den Opfern scheint ohne eigene Behinderung schwerer zu fallen als mit. 128 00:18:26,964 --> 00:18:39,574 Die nicht behinderten Familienangehörigen haben die Wahl, ob sie sich als Nachfahren/-innen einer oder eines Behinderten outen und damit riskieren, ebenfalls in die Sphären des "nicht Normalen" zu geraten. 129 00:18:40,018 --> 00:18:52,518 Oder aber sie outen sich nicht und versichern sich der eigenen "Normalität" und "Gesundheit" um den Preis der Verleugnung ihrer behinderten und ermordeten Angehörigen. Die meisten entscheiden sich für Letzteres. 130 00:18:53,171 --> 00:19:01,771 Diese Wahl steht behinderten Menschen, also denen, die regelmäßig aufgrund ihrer körperlichen oder geistigen Fähigkeiten beurteilt und diskriminiert werden, 131 00:19:02,213 --> 00:19:06,641 die sichtbar aus der Matrix des "Normalen" herausfallen, nicht zur Verfügung. 132 00:19:07,499 --> 00:19:15,599 Die Krüppel/-innenbewegung in Deutschland hat Eugenik, "Euthanasie" und den Mord an Kranken und behinderten Menschen stets zum Thema gemacht. 133 00:19:16,181 --> 00:19:20,757 Die nicht behinderten Nachfahren/-innen der NS-"Euthanasie"-Opfer haben das kaum getan. 134 00:19:21,632 --> 00:19:30,132 Meine Familie, allen voran meine Großmutter, stellte in dieser Hinsicht eine Ausnahme dar, auch wenn sich in den letzten Jahren einiges diesbezüglich ändert. 135 00:19:30,989 --> 00:19:38,605 Innerfamiliär können Nachfahren/-innen von als "lebensunwert" Vernichteten an drei Punkten erinnerungspolitisch anknüpfen. 136 00:19:38,673 --> 00:19:41,040 An die Ermordung ihrer Verwandten, 137 00:19:41,059 --> 00:19:43,492 an die innerfamiliären Folgeeffekte 138 00:19:43,554 --> 00:19:45,821 und an Ableismus heutzutage. 139 00:19:46,560 --> 00:19:53,144 Die Befürchtung, selbst als behindert stigmatisiert zu werden, führt hingegen zu Prozessen der Vermeidung: 140 00:19:53,687 --> 00:20:03,537 Verleugnung der Angehörigen, eine besondere Vorsicht bei möglichen Behinderungen der Nachgeborenen, transgenerationelle Weitergabe von Trauma und dergleichen mehr. 141 00:20:04,560 --> 00:20:11,732 Eine bewusste Aneignung der Geschichte im Allgemeinen und der eigenen Familiengeschichte im Besonderen unterbleibt dadurch. 142 00:20:13,187 --> 00:20:18,235 Wenn es um das Schweigen der Familienangehörigen geht, ist oft von Scham die Rede. 143 00:20:19,090 --> 00:20:31,940 Bezugnehmend auf meine bisherigen Ausführungen möchte ich diese Erklärung in Frage stellen: Scham individualisiert und leugnet die gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen: Ableismus. 144 00:20:32,522 --> 00:20:43,422 Vor Ableismus und den Konsequenzen wie Stigmatisierung, sozialer Ächtung und Diskriminierung Angst zu empfinden, ist nachvollziehbar. Das ist aber etwas anderes als Scham. 145 00:20:43,463 --> 00:20:51,047 Es ist ein sinnvoller und leider oft notwendiger Selbstschutz vor Diskriminierung. Mit Scham zu begründen, 146 00:20:51,071 --> 00:21:01,271 dass die Angehörigen beispielsweise die Nennung der Namen ihrer ermordeten Vorfahren/-innen nicht wollten, de-thematisiert die Verhältnisse, die die Scham hervorrufen. 147 00:21:02,011 --> 00:21:05,675 Scham kann eine Folge sein, nicht aber die Ursache. 148 00:21:06,654 --> 00:21:12,116 Diese Verschiebung der Begründungszusammenhänge trägt zum Fortbestand von Ableismus bei. 149 00:21:12,511 --> 00:21:20,731 Eben, weil dieser nicht thematisiert, noch nicht einmal gedacht wird. Anstelle zu fragen, was denn Familienangehörige bräuchten, 150 00:21:20,738 --> 00:21:27,514 um ihrer ermordeten Verwandten gedenken zu können, werden sie im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos gemacht. 151 00:21:28,269 --> 00:21:37,389 Die hegemoniale Diskursformation macht es den Geschädigten und den Familienangehörigen unmöglich erlittenes Unrecht auszudrücken und einzuklagen, 152 00:21:37,881 --> 00:21:44,751 da dieses außerhalb des Rahmens üblicher gesellschaftlicher Sachverhalte fällt und die vorherrschende Sprache dies nicht zulässt. 153 00:21:46,308 --> 00:21:57,008 Die Verdrängung, wie mit behinderten Menschen in der Vergangenheit in Deutschland umgegangen wurde, wird auch die Auseinandersetzung um Behinderung im Hier und Heute verdrängen. 154 00:22:02,700 --> 00:22:11,250 Es ist folgerichtig, dass es meiner Großmutter nicht einfach nur um ein würdiges Gedenken an ihre Mutter ging, sondern immer auch um politische Kämpfe. 155 00:22:13,040 --> 00:22:22,740 Rehabilitation der und Entschädigung für die Ermordeten, Unterstützung der Hinterbliebenen, Abschaffung der alten Nazigesetze, Erforschung der Verbrechen 156 00:22:23,023 --> 00:22:30,027 und eine prinzipielle Hinterfragung des gesellschaftlichen Umgangs mit Behinderung, Abweichung und Normalität. 157 00:22:30,896 --> 00:22:38,996 Erinnerung ist niemals Selbstzweck. Der Blick in die Vergangenheit ist zugleich ein Blick in die Gegenwart und in die Zukunft. 158 00:22:39,702 --> 00:22:45,942 Der Vernichtung "lebensunwerten" Lebens erinnern, um den Grundlagen von Ableismus die Basis zu entziehen. 159 00:22:46,278 --> 00:22:55,898 Wer diese Auseinandersetzung mit Ableismus nicht will, wird auch Probleme mit der Erinnerung an mögliche ermordete behinderte Vorfahrinnen und Vorfahren haben. 160 00:22:56,632 --> 00:23:06,782 In Anbetracht dessen, dass ein Großteil der Deutschen regelrecht besessen davon ist, sich als ein Opfer der Nazis zu fühlen und zu inszenieren, ist es ja eigentlich attraktiv, 161 00:23:07,222 --> 00:23:14,622 ein NS-"Euthanasie"-Opfer in seiner Familie zu haben und die Reihen derjenigen, die sich auf die Suche nach irgendwelchen umgebrachten, 162 00:23:14,631 --> 00:23:21,083 ermordeten behinderten Menschen in ihrer Familienbiografie machen, könnten gut bestückt sein. 163 00:23:21,623 --> 00:23:30,403 Aber eine Opfernarration à la "Erst mussten wir in den Krieg ziehen, wurden gezwungen, Menschen zu erschießen, dann wurden wir ausgebombt und vertrieben 164 00:23:30,670 --> 00:23:35,752 und meine 'geisteskranke' Mutter wurde auch noch umgebracht" funktioniert nicht mit dem letzten Aufzählungspunkt. 165 00:23:37,220 --> 00:23:46,020 Die Täter/-innen-Opfer-Verkehrung findet da ihre Grenzen, wo die Folgen für die tatsächlichen Opfer erneute Diskriminierung im Hier und Heute ermöglichen. 166 00:23:46,830 --> 00:23:56,130 Dies betrifft übrigens nicht nur die NS-"Euthanasie"-Opfer und die Zwangssterilisierten, sondern beispielsweise auch die als homosexuell und die als "asozial" Verfolgten. 167 00:23:57,187 --> 00:24:08,127 Es gibt Shoa-Leugner/-innen, die detailliert nachweisen, die Gaskammern hätten nie existiert. Es gibt keine "T4"-Leugner/-innen, mit einer einzigen mir bekannten Ausnahme. 168 00:24:08,490 --> 00:24:14,122 Der Frankfurter Neo-Nazi Horst Jürgen Schäfer leugnet sowohl die Shoa als auch Hadamar. 169 00:24:14,128 --> 00:24:21,496 Die Gaskammern in deutschen Psychiatrien haben es nie zu dem Bekanntheitsgrad der Mordzentren im Osten gebracht. 170 00:24:21,868 --> 00:24:31,768 Fast scheint es, die Leugnung wäre nicht möglich, weil das Wissen darum so wenig verbreitet ist, und eine Anerkennung nicht in Konflikt mit deutscher Identität steht. 171 00:24:32,878 --> 00:24:37,838 Die Ermordung der sogenannten "nutzlosen Esser" wurde nicht nur während des NS befürwortet, 172 00:24:38,271 --> 00:24:44,915 sondern auch in den beiden postnationalsozialistischen deutschen Staaten noch lange Zeit nicht als Verbrechen angesehen. 173 00:24:45,754 --> 00:24:53,404 Margret Hamm, Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft des Bundes der "Euthanasie"-Geschädigten und Zwangssterilisierten kommentiert bitter die Frage, 174 00:24:53,753 --> 00:25:01,539 ob sie noch Hoffnung habe, dass das "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" in der Bundesrepublik jemals für nichtig erklärt wird: 175 00:25:03,025 --> 00:25:13,185 Ja, wenn alle tot sind" - gemeint sind hier die Überlebenden der Zwangsterilisation. "So einfach ist das, und dann wird man einen großen Gedenktag machen". 176 00:25:13,975 --> 00:25:23,175 Ich befürchte, dass Margret Hamm Recht hat und dennoch hoffe ich, dass dieses fürchterliche Gesetz bald für nichtig erklärt wird. 177 00:25:23,325 --> 00:25:28,741 Dies hätte den Nebeneffekt, dass ich den Namen Emilie Rau mit mehr Gelassenheit hören könnte.