Thüringer Allgemeine: "Mir lebn ejbig, mir sejnen da"

10.05.2012 10:00

Esther Bejarano, die im Mädchenorchester von Auschwitz das Akkordeon spielen musste, sprach in der Gedenkstätte "Topf & Söhne" über ihr Überleben der Hölle. Ihr Konzert mit einer Kölner HipHop-Band in Erfurt war ein berührender Auftritt gegen das Vergessen der Vergangenheit und gegen Intoleranz in der Gegenwart

von Elena Rauch

Sie ist klein, leicht gebeugt. Ihr Haar ist weiß. Der Mann, mit dem sie die Bühne betritt, trägt Jeans, die schwarzen Locken aus dem Gesicht gekämmt. Die Luft vibriert unter elektronischen HipHop-Rhythmen. Kutlu, der türkischstämmige Deutsch-Lehrer, rapt über Hass und Lügen. Dann tritt sie vor das Mikrofon. "Gott im Himmel, wenn sie etwas vorhätten, dann wäre es heute, heute Nacht. . ." Es ist Brechts "Ballade von der Judenhure Marie Sanders". Sie singen Lieder wie "Bella chiao" und "Für das Leben". Sie singen deutsch, in Türkisch, Italienisch, in Jiddisch und in Hebräisch. Der atemlose Rhythmus des HipHop verwebt sich mit der Lyrik jiddischer Lieder. Die türkisch-italienische Hip-Hop-Crew "Microphone Mafia" und die Jüdin Esther Bejarano. Manchmal bricht ihre Stimme. Dann wieder, wenn sie mit der Faust den Rhythmus vorgibt, wirkt sie so kraftvoll, dass man sich fragt, woher diese Frau die Energie nimmt. 

Sie ist 87 Jahre alt. Die Zuschauer an diesem Erfurter Abend könnten beinahe alle ihre Enkel sein. Am nächsten Tag, in der Gedenkstätte Topf &. Söhne, wird sie davon berichten, wie ihr die Musik die schwärzesten Erinnerungen in die Seele brannte. Und davon, wie sie ihr Leben gerettet hat. Sie hat im Mädchenorchester von Auschwitz das Akkordeon gespielt. Auch hier sitzen junge Menschen vor ihr. 16, 17 Jahre alt, Schüler aus Erfurt. Sie sucht diese Begegnungen. Sie hat die tiefsten Abgründe überlebt. Und die Erinnerungen daran müssen auch überleben. 

April 1943. Der Zug ratterte in unbestimmte Richtung. Bei jedem Halt drängten sich die Menschen vor die vergitterten Fenster. In der Hoffnung, sie wären endlich da. Kaum Luft zum Atmen, kaum Wasser. Auf dem Boden des Viehwaggons lagen die Toten. Niemand wusste, wohin sie fuhren. Auch nicht, was die Rampe bedeutet, als man sie irgendwann aus dem Zug trieb. Dass die Alten, die Kranken und die Schwangeren auf einem Lkw gefahren wurden, hielten sie für eine Freundlichkeit. 

41 948. Als sie ihr die Nummer auf den linken Arm tätowierten, wusste sie, dass sie ihr, der behüteten Tochter aus der Familie eines Kantors im Saarland, damit den Namen nehmen wollten. Jahre später, da war sie nach Palästina ausgewandert, ließ sie sich die verhasste Nummer aus der Haut brennen. Sie wollte vergessen. 

"Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami". Nie wieder, seit sie Auschwitz verlassen hat, konnte sie dieses Lied spielen. Damals, als sie die polnische Musiklehrerin auf der Suche nach Frauen für das Orchester vorspielen ließ, war es ihre Rettung. Walzer, Märsche, Schlager, Tangos. Sie spielten, als die Arbeitskolonnen morgens aus dem Tor zogen und am Abend zurückgetrieben wurden. Und später schickten sie die Gefangenen mit ihren Instrumenten direkt an die Schienen, wo die Züge ankamen. Die Menschen schauten aus den vergitterten Fenstern und ahnten nicht, dass sie direkt in den Tod fuhren. Manche winkten ihnen zu. Kann ein Ort so schlecht sein, der sie mit Musik empfängt? 

"Du hast Glück bei den Frau’n, Bel Ami". Der Schmerz würgte in der Kehle, aber sie spielten. Hinter ihnen standen SS-Leute mit Gewehren. Wie hält das ein Mensch aus? Sie sitzt an dem Erfurter Ort, an dem deutsche Ingenieure die Öfen von Auschwitz bauten, und sucht nach einer Antwort. Sie findet keine. Die Panik in der Seele, wenn sie Mengele beim Morgenappell sahen. Die ständige Angst. Der Rauch aus den Schornsteinen. Wer ist die Nächste? "Du hast", sagt sie, "von Tag zu Tag gelebt. Manchmal von Stunde zu Stunde." Wenn sie nach den Nächten aus den Baracken traten, sahen sie die leblosen Körper von Frauen im Elektrozaun hängen. Einige waren Freundinnen von ihr. Sie haben sie nicht aushalten können, diese Angst. Vielleicht war es ihr fast sturer Wille zum Leben, der sie trug. Überleben, um Zeugnis abzulegen. Die Täter sollten nicht davonkommen. 

Man brachte sie in das Konzentrationslager Ravensbrück. Auf dem Todesmarsch, irgendwo in den Wäldern Mecklenburgs, gelang ihr zusammen mit anderen Frauen die Flucht. Die Befreiung erlebte sie in Gestalt amerikanischer Panzersoldaten. Als die Frauen ihre tätowierten Nummern zeigten, wurden sie von den Soldaten unter Tränen umarmt. Ihr seid jetzt frei. Später, sie waren in einer Kleinstadt angekommen, rollten Panzer der Roten Armee hinzu. Jemand schleppe ein Hitlerbild auf die Straße, zündete es an. Die Soldaten, Amerikaner und Russen, standen um die Flammen. Jemand drückte ihr ein Akkordeon in die Hand. Das Hitlerbild brannte und sie spielte dazu. Es war vorbei. 

Es war nie vorbei. Schwere Stiefel von SS-Leuten treten auf sie ein. Sie krümmt sich auf dem Boden, versucht sich zu schützen, aber die Tritte treffen sie. Die Stiefel treten sie tot. Dann wacht sie auf, starr vor Angst. Immer wieder kommt dieser nächtliche Albtraum. Sie lebte schon in Israel, fand eine Liebe, bekam Kinder. Der Albtraum blieb. Er heftete sich an ihre Nächte, da war sie mit der Familie schon längst nach Deutschland zurückgekehrt. Sie sprach nie darüber. Mit niemandem. Sie wollte die Familie schützen. Sie wollte sich selber schützen vor den Erinnerungen. Sie dachte, sie müsste sie begraben in der allertiefsten Seelenkammer, um leben zu können. 

Dann war dieser Aufmarsch von Neonazis, direkt vor ihrer Boutique, die sie eröffnet hatte. Es war der Tag, an dem sie beschloss, ihr Schweigen zu beenden. Als sie begriff, dass sie reden musste. Für die Frauen, deren Körper morgens im Elektrozaun hingen. Für die Menschen, die an ihr vorbei in die Gaskammern rollten, während sie spielen musste. Der Tag, an dem sie einen der Polizisten, die sich um die Nazis aufstellen, am Revers packte. Sie sah ihm in die Augen und frage: "Wissen Sie überhaupt, wen sie hier beschützen? Ich war in Auschwitz."

Sie schrieb ein Buch über ihre Erinnerungen. Sie gründete mit anderen Überlebenden das Auschwitz-Komitee. Sie geht in Schulen, in Klubs, sie spricht mit Jugendlichen. Sie hat erfahren, welche Abgründe in Menschen stecken können. Es geht ihr um die Erinnerung und es geht ihr um die Gegenwart. Das ist auch der Grund, warum sie mit den Kölner Rappern auf der Bühne steht. Es geht nicht darum, wie die Musik ihrer Generationen gemeinsam klingt. Es geht nicht einmal darum, ob sie HipHop mag. Sie sagt, wenn sie erreichen will, dass die Erinnerung weiterlebt, muss sie die Jugend erreichen. Gegen Ende des Konzerts in Erfurt, tauscht Sohn Yoram, der neben ihr auf der Bühne steht, den Bass gegen die Geige. Sie richtet sich auf vor dem Mikrofon und singt das jiddische Lied, dass Lejb Rosenthal 1943 im Wilner Ghetto schrieb: "Mir lebn ejbig, mir sejnen da!"

Fotos:

Mit Konzerten, Kundgebungen und Lesungen erinnert Thüringen an die Deportation von 513 Juden vor 70 Jahren. Das Archivfoto aus Yad Vashem zeigt Eisenacher Familien auf dem Weg zum Bahnhof der Wartburgstadt. Von dort wurden sie am 9. Mai 1942 zum Sammelpunkt nach Weimar verschleppt. Ein erneuter Transport am 19. September 1942 nach Theresienstadt betraf weitere 364 Menschen aus 38 Orten.

Lieder gegen das Vergessen. Esther Bejarano während ihres Konzertes auf der kleinen Bühne des Erfurter Radiosenders "F.R.E.I." Die 87-Jährige ist die letzte Überlebende des Mädchenorchesters von Auschwitz. Als 19-Jährige wurde sie in das Vernichtungslager verschleppt. Mit ihren Kindern interpretiert sie auf Konzerten jiddische Musik. Weil sie vor allem die Jugend erreichen will, tritt sie außerdem mit der HipHop-Band "Microphone Mafia" auf.

Fragen des Tages

Wie viele Juden lebten vor der NS-Machtergreifung in Thüringen?
Ende der 90er-Jahre dokumentierte eine Forschergruppe etwa 5000 jüdische Biografien auf dem Gebiet des heutigen Freistaates vor 1933. Sie lebten in knapp 40 Gemeinden in langer Tradition. Die meisten der Synagogen, wie in Erfurt, Gotha, Nordhausen, Meiningen oder Eisenach, wurden während der Pogrome 1938 zerstört.

Warum wird gerade in diesen Tagen der Opfer gedacht?
Im Mai 1942 wurden aus 30 Thüringer Orten 513 jüdische Frauen, Kinder und Männer nach Weimar gebracht. Von dort fuhr heute vor 70 Jahren in den Morgenstunden der Zug mit den Totgeweihten in das Ghetto von Belzyce ab. Die Deportation markiert den Beginn der systematischen Vernichtung der jüdischen Bevölkerung Thüringens.

Was geschah im Ghetto von Belzyce?
Nach Kriegsbeginn richteten die Nazis in der ostpolnischen Stadt südwestlich von Lublin ein Ghetto für jüdische Menschen ein. Als der Transport mit den Deportierten aus Thüringen und Sachsen ankam, waren dort bereits etwa 4000 Menschen zusammengepfercht. Die Nazis lösten bald darauf das Ghetto auf und verschleppte ihre Bewohner nach Majdanek und in andere Konzentrationslager.

Service

In zahlreichen Veranstaltungen wird heute in Thüringen an den Beginn der Deportationen jüdischer Menschen erinnert:

Erfurt: Gedenkveranstaltung der Jüdischen Landesgemeinde und des Thüringer Landtags im Landtag ab 10:30 Uhr

Arnstadt: Verlegung von 19 Stolpersteinen im Gedenken an ermordete jüdische Einwohner.

Gera: Gedenken am Hauptbahnhof ab 15:00 Uhr.

Jena: Erinnerungsveranstaltung in der Ernst-Abbe-Bücherei um 19:30 Uhr.

Weimar: Gedenken an der Viehauktionshalle ab 14:30. Erinnerung auf dem Theaterplatz ab 16:00 Uhr.

Redaktion dieser Seite: Karl-Heinz Schmidt