Veranstaltungsbericht zum Gedenken an die Ermordung der Thüringer Juden vor 75 Jahren

09.05.2017 18:00

Führung durch die Ausstellung "Wenn ihr hier ankommt..." und Lesung aus den Briefen der Eltern Mosbacher und ihrer Tochter Eva zur Erinnerung an die tragische Geschichte der Familie Mosbacher aus Meiningen

Foto: Christoph Gann, Kurator der Ausstellung "Wenn ihr hier ankommt ..." Foto: © Stadtverwaltung Erfurt

"Daten, Zahlen und Namen zum Ausmaß des Völkermordes in der Zeit des Nationalsozialismus haben eine starke Aussagekraft, um die Monstrosität der Verbrechen zu erfassen. Aber einzelne Geschichten hinter den Namen vermögen uns Nachgeborene zu berühren, das Leiden der vielen Opfer intensiver nachzuempfinden." Dr. Annegret Schüle, Kuratorin des Erinnerungsortes, umriss mit diesen Worten an die Besucher ein wichtiges Anliegen der in Kooperation mit der Landeszentrale für politische Bildung Thüringen angebotenen Veranstaltung am Dienstag, 9. Mai, am Erinnerungsort.

Anlass für den Abend war der 75. Jahrestag der Deportation jüdischer Bürgerinnen und Bürger aus Thüringen. Allein die nackten Daten und Zahlen sind bedrückend: Am 9. Mai 1942 wurden 513 jüdische Männer, Frauen und Kinder in die Viehauktionshalle nach Weimar gebracht, wo sie, zusammengepfercht, die Nacht verbringen mussten. Am Morgen des 10. Mai begann ihre Deportation in das Ghetto Bełżyce (im heutigen Polen). Nur eine junge Frau überlebte diesen größten Transport aus Thüringen und dem preußischen Erfurt.

Diesem furchtbaren Geschehen Namen und Gesichter verlieh der Veranstaltungsabend mit dem Schicksal der jüdischen Familie Mosbacher. Den Anfang machte eine Führung von Christoph Gann durch die von ihm verwirklichte Ausstellung "Wenn ihr hier ankommt …". Anhand der Fotos, Dokumente und erläuternden Texte zeichnete Christoph Gann den Leidensweg von Otto und Hedwig Mosbacher sowie ihrer Tochter Eva nach. Die Mosbachers waren eine angesehene Kaufmannsfamilie, die in Nürnberg lebte. Andere Mitglieder der weitverzweigten Familie wanderten während der Dreißigerjahre bereits aus, Zielländer waren unter anderem England und Südafrika. Angesichts der zunehmenden Repressionen durch das NS-Regime verfolgte Otto Mosbacher seit 1937 das Ziel, auch für seine kleine Familie eine sichere Bleibe zu finden – ein Unterfangen, das sich als außerordentlich schwierig und für die Eheleute Mosbacher am Ende als undurchführbar erweisen sollte.

Immerhin konnte die damals 12-jährige Tochter Eva im Rahmen der sogenannten Kindertransporte im Mai 1939 nach England ausreisen. Die brutale Gewalt in der Pogromnacht des 9. November 1938 hatte die britische Regierung dazu bewegt, wenigstens 10.000 jüdische Kinder aufzunehmen. In England lebte Eva bei zwei berufstätigen Pflegemüttern und hatte auch Kontakt zu Verwandten. Während sich das Mädchen tapfer in der neuen Umgebung einlebte, gestaltete sich der Versuch ihrer Eltern, nachzukommen oder wenigstens in einem anderen Land auf der Welt Zuflucht zu finden, zu einem tragischen Drama: Christoph Gann zeigte anhand der Ausstellung eindrücklich, wie sich in einer quälenden Abfolge verschiedenste Anstrengungen der Eltern, in die USA, nach Südafrika oder auch nach Kuba zu fliehen, immer wieder als vergeblich erwiesen. Selbst eine entfernte Verwandtschaft zum amerikanischen Finanzminister Henry Morgenthau brachte keine Erlösung. Zweimal besaßen die Eheleute bereits Schiffstickets nach Übersee, erhielten aber am Ende nicht die rettenden Visa, um Deutschland verlassen zu können. Im Oktober 1941 zogen die Mosbachers von Nürnberg ins thüringische Meiningen, wo sie bereits unter beengten Verhältnissen in einem sogenannten Ghettohaus leben mussten. Als sie im Mai 1942, exakt drei Jahre nach der Trennung von ihrer Tochter Eva, die Aufforderung zur Deportation erreichte, bedeutete dies ihr Todesurteil. Sie gehörten zu den 512 thüringischen Juden, die nach Bełżyce gebracht wurden und dort, im KZ Majdanek oder in anderen Vernichtungslagern ermordet wurden.

Auf sehr berührende Weise unterlegt wurde die tragische Geschichte der Familie Mosbacher durch die im Anschluss an die Ausstellungsführung veranstaltete Lesung aus den Briefen der Eltern Mosbacher und ihrer Tochter. Die Briefe wurden in den Jahren 1939 bis 1942 verfasst und von den Eltern vor ihrer Deportation im Mai 1942 an ihren christlichen Freund Frank Heurich übergeben, der sie vor dem Vergessen bewahrte. Die Briefe, verlesen von der Schauspielerin Liljana Elges und Christoph Gann, der auch sehr profund den jeweiligen Kontext erläuterte, zeugen sehr anrührend vom Schicksal der Familie, die durch Trennung, Todesgefahr und vielfache Enttäuschungen schon vor dem Mai Jahr 1942 großes Leid erfuhr. Sie berühren bis heute durch den Versuch, auch in Jahren schwerster Bedrückung die Hoffnung nicht aufzugeben und sich in Liebe gegenseitig zu trösten. Es war für alle Zuhörer bewegend zu hören, wie die noch im kindlichen Alter befindliche Eva trotz Trennung von ihren Eltern und der erzwungenen Eingewöhnung in einem fremden Land immer wieder Mut machende Worte für ihre Eltern fand. Berichte über ablenkende Aktivitäten in Cambridge wie Kinobesuche oder Bootsrennen finden sich in ihren Briefen ebenso wie das vielfach geäußerte Heimweh, aber auch eine große Lebensfreude und die ungebrochene Hoffnung auf eine Vereinigung mit den Eltern.

Elterliche Liebe spricht aus den Briefen von Otto und Hedwig Mosbacher; zudem zeigen gerade ihre Zeugnisse sehr konkret, wie furchtbar für sie das jahrelange Warten auf eine Fluchtmöglichkeit war – die verzweifelte Suche nach einem Ausweg, die gerade in heutiger Zeit für Millionen Menschen wieder Realität ist, und die an die heutige Verantwortung demokratischer Staaten gemahnt.

Gebannt verfolgten die Gäste der Lesung den brieflichen Austausch dreier Menschen, die an diesem Abend aus der leider oft anonymen Masse hinter den erschreckenden Zahlen und Daten heraustraten. Verstörend war für alle Besucher, zu erfahren, dass alle Hoffnungen und Sehnsüchte der Familie Mosbacher am Ende zerrannen: Otto und Hedwig Mosbacher überlebten den Holocaust nicht, wobei nicht einmal ihr Todestag und -ort bekannt sind. Der heranwachsenden Tochter im fernen Cambridge blieb nach dem Krieg nicht einmal ein Grab. Zunächst verlebte Eva nach dem Krieg quälende Jahre der Ungewissheit, bis die Hoffnung erlosch und sie 1956 ihre Eltern für tot erklären ließ. Das Trauma von Trennung und Verlust konnte die junge Frau nie verwinden, von Depressionen gequält setzte sie 1963 im Alter von 37 Jahren in London ihrem Leben ein Ende. Es sind die einzelnen Schicksale, die Menschen in heutiger Zeit, Jahrzehnte später, zumindest eine Annäherung an das Grauen ermöglichen. Und es sind Gedenkveranstaltungen wie diese am 9. Mai am Erinnerungsort, welche die Opfer und ihr Leiden dem Vergessen entreißen und zugleich Mahnung sind, stets für Humanität und Frieden einzutreten.

Dank unseres Förderkreismitglieds Holger Wiemers können wir unseren Besucherinnen und Besuchern regelmäßig von den anregenden Diskussionen, Gesprächen und Begegnungen im Erinnerungsort berichten.